Es ist Zeugniszeit, Notenzeit, die Zeit vieler Tränen.
Ich gebe die letzten Klassenarbeiten zurück, spreche dabei mit jedem Kind, mit jedem Jugendlichen einzeln. Einmal im Jahr, mindestens, muss Zeit sein für ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Was nehme ich von Dir wahr, über die Zahl, die unter der Arbeit steht, hinausgehend? Worin bestehen – in meinen und in Deinen Augen – Deine größten Schritte der letzten Zeit? Wie geht es Dir in meinem Fach, in meinem Unterricht, was brauchst Du, was wünschst Du Dir von mir?
Etwa 150mal versuche ich in den letzten Wochen, in ein kurzes Gespräch über all das zu kommen, oft gelingt es. Und oft, viel zu oft fließen dabei Tränen. Auf die Schüler mit den „schwierigen“ Noten hatte ich mich vorher ausführlich vorbereitet, hatte für jeden einzelnen überlegt und aufgeschrieben, was ich an Tröstendem, Ermutigendem und Besänftigendem sagen könnte. Doch die meisten Tränen gibt es für mich völlig unerwartet. Oft sind die Noten nur der Anlass, es fließt zumeist sehr viel mehr mit. Immer geht es um Überforderung, bis hin zu Verzweiflung, die ganz unmittelbar mit der jeweiligen Schulsituation des jungen Menschen verbunden ist.
Viele Gespräche gehen mir innerlich nach. Einige haben sofortigen Elternkontakt zur Folge, andere trage ich ins nächste Schuljahr mit. Manches teile ich mit Kollegen, mit der Schulleitung auch, hin und wieder können wir ganz unmittelbar etwas ändern. Das meiste aber bleibt zunächst ungelöst.
Es folgen die Zeugniskonferenzen. Allzu oft müssen wir entscheiden, dass ein Kind eine Klasse nicht „geschafft“ hat. Welcher Weg für das Kind nun der beste ist, dafür versuchen wir beratend zur Seite zu stehen. Zunächst aber versetzen wir mit der telefonischen Mitteilung so manche Familie in einen Schockzustand. Kein anderer Weg scheint angedacht, kein anderer Weg als das Turbogymnasium. Zuweilen brechen vor unseren Ohren Welten zusammen, prallt der ganze Schock ungedämpft auf ein Kind ein. Wieder Tränen Tränen Tränen.
„Was läuft da schief in unseren Schulen?“ Diese Frage stand wie ein Fazit unter einem Twitterkurzgespräch vor längerer Zeit, in dem es um Schulängste und -tränen, um Schule und die Schulen allgemein, um unsere Kinder in diesen Schulen und die im Hintergrund das Schulerleben stets mittragenden Familien ging. Diese Frage blieb in mir hängen, bis heute.
Was also läuft schief in den Schulen? Warum fließen dort so viele Tränen? Wie fühlen sich die Kinder und Jugendlichen, die diese weinen? Welche Ängste und Nöte tragen sie in sich? Warum fliehen so viele Jugendliche in psychische Erkrankungen, in Essstörungen, Depressionen und selbstverletzendes Verhalten?
Kaum einer Familie mit Schulkindern werden diese Fragen völlig fremd sein, vermute ich. Wir hier zu Hause erleben sie glücklicherweise nur in Ansätzen, weil meine Kinder es im Großen und Ganzen gut getroffen haben. Als Lehrerin aber bin ich jeden Tag involviert. Kinder weinen beim Erblicken der Klassenarbeitsnote – selbst schon bei einer 2 – los, Jugendliche fragen mit ängstlicher Stimme, ob der Test unterschrieben werden solle, ich werde angefleht, über die wiederum vergessenen Hausaufgaben nichts den Eltern mitzuteilen – das ist mein Arbeitsalltag. Ich möchte aufschreien.
Unser Schulsystem ist voll von Bewertungen. So sehr mich das Verteilen von Noten manchmal selbst schmerzt: Nun gibt es Noten aber einmal, an dieser Schraube lässt sich im Moment und in der konkreten Situation nicht drehen. Statt mich an eine Schulform ohne Noten wegzubewegen, habe ich in den letzten Jahren immer und immer wieder darüber nachgesonnen, wie ich, wie wir mit diesem Bewertungssystem umgehen könnten.
Meine vielen Beobachtungen und Überlegungen lassen sich vielleicht am ehesten so – in fast schon unzulässiger Verkürzung – zusammenfassen:
Noten sind zunächst Zahlen, mit deren Hilfe eine Schüler“leistung“ mit einer im System festgelegten Skala des erwarteten Könnens und Wissens abgeglichen wird. Wer oder was diese Skalen in einzelnen Schularten, Schulen und Fächern jeweils festlegt, nach welcher Formel der erbrachte Anteil in eine Notenzahl umgerechnet wird, dass es dabei selten völlig objektiv zugeht und dass solche mathematischen Verfahren wie Notendurchschnitte und Ausgleichsregelungen bei der Versetzung höchst strittig sind, geschweige denn dass zahlreiche andere Faktoren als nur das Erlernte auf die konkreten Noten Einfluss haben, um all diese Aspekte soll es jetzt nicht gehen. Ganz schlicht gesagt also: Mittels Noten wird abgeglichen, welchen Anteil des zu Lernenden zu einem jeweiligen Zeitpunkt als Erlerntes dargeboten werden kann. Nicht mehr, und nicht weniger.
Was Lernende aus diesen Noten allerdings oft ablesen, ist weit mehr. Da fällt das Attribut „schlecht“ – „Ich bin ein schlechter Schüler. Ich bin 4.“, wenn im Gegenzug die „guten“, die „Einserschüler“ hervorgehoben werden. Diese Wertung wird auch nicht besser, wenn stattdessen „schwach“ oder „leistungsschwach“ gesagt wird. Da sind die Notenbezeichnungen „mangelhaft“, „ungenügend“ und „ausreichend“ geradezu prädestiniert, als Persönlichkeitsbewertungen gelesen zu werden. Doch halt, es geht nicht um diese Bezeichnungen. Mögen diese meinetwegen so bleiben.
Es geht darum, dass die damit verbundenen Bewertungen nicht in die Seelen der jungen Menschen eindringen. Dass sich also nicht ein ganzer Mensch bewertet fühlt, wo die erhaltene „Zahl“ einzig das im Prüfungskontext gezeigte Können oder Nichtkönnen meint.
So klar, so schwierig. Denn wie kann sich eine kleine Seele dieser verletzenden Sprache entziehen, wie kann sie sich vor dem Gefühl des Klein- und Minderwertigseins schützen, wie kann sie verhindern, dass sie sich bis ins Innerste persönlich bewertet fühlt?
Dies kann nur gelingen, wenn die Verbindung zwischen Notenzahl und Persönlichkeitsbewertung so weit wie möglich gekappt wird, und zwar in erster Linie durch die das Kind umgebenden Erwachsenen.
Ja, darin liegt in meinen Augen unsere allererste Verantwortung. „Unsere“, das meint: die der Eltern und die der Schule. In der allerletzten Stunde vor dem schriftlichen Mathematik-Abitur sage ich zu meinem angstschlotternden Kurs immer einen Satz, den ich jedem Kind und Jugendlichen als verinnerlichtes Mantra wünsche:
„Eine Note ist eine Zahl ist eine Zahl ist eine Zahl.“
Nun wäre es allerdings naiv, diesen letzten Satz als Fazit stehen zu lassen. Er gilt so uneingeschränkt allerhöchstens bis zum Ende der Mittelstufe, nur in den Fächern, in denen nicht Wissen und Können gravierend aufeinander aufbauen, und auch nur, wenn sich die Noten – auf der hierzulandigen Skala – zwischen 1 und (sicherer) 4 bewegen. Außerhalb dessen kommen Versetzungsregelungen, Uni-NC-Fächer und überhaupt die Notwendigkeiten langfristigen Lernens ins Spiel. Äußere Gegebenheiten also, die es doch nicht gleichgültig sein lassen, mit welchen Zahlen man den Schulparcours absolviert. Lebensentscheidungen hängen davon ab, Schulart und Schulwechsel, Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten, Chancen auf Praktika, Preise, gesellschaftliche Anerkennung etc. Die Gesellschaft lebt in weiten Bereichen vor, dass man (erst?) durch Leistung etwas zählt, dass das Attribut „wertvoll“ viele Überschneidungen mit „leistungsfähig“ hat. In die Schule ist dies längst tief eingedrungen, dem entzieht sich niemand durch Augenverschließen.
Insbesondere Eltern haben dies alles vor Augen. Ängste flackern auf, man möchte das Beste für sein Kind, es soll doch seine Wege „erfolgreich“ gehen können, es soll „bestehen“ und „weiterkommen“, es soll die nötigen Voraussetzungen erwerben, um etwas zu „werden“. — Nein, ich mache dies nicht lächerlich, stelle mich nicht darüber, blicke nicht distanziert darauf hinab. Auch mir als Mutter schießen solche Dinge durch den Kopf, auch ich sorge mich um die Zukunft meiner Kinder, auch mich haben schon manche Rückmeldungen aus der Schule erschreckt, weil ich mich daraufhin um den künftigen Weg meiner allerliebsten Menschen ängstigte.
Als ich vor Jahren eine ältere Kollegin fragte, was sie Eltern sage, gerade wenn sich die schulische Situation des Kindes problematisch darstelle, bekam ich eine Antwort, die ich seither fest in mir trage: „Machen Sie keinen Druck. Ihr Kind hat das Recht auf eine glückliche Kindheit. Machen Sie also in erster Linie keinen Druck.“
Ja, ja und ja!
Machen wir keinen Druck. Der Satz ist an mich gerichtet, an meine KollegInnen, an die Eltern, und vielleicht auch ein wenig ans Kind. Dieses aber kann sich selten wehren und verinnerlicht oft nur den von außen hineintransportierten Druck.
Sagen wir stattdessen lieber: „Du bist gut, so wie Du bist. Auch wenn Du schlechte Noten hast.“ Oder besser: ohne „auch“. Damit der Wert des Kindes und seine Schulnoten in keinerlei Zusammenhang gebracht werden.
Manche Kinder tragen dieses „Du bist gut, so wie Du bist.“ ja in einer gesunden Natürlichkeit in sich. Die meisten allerdings sind – zumal in der Pubertät – abhängig davon, dass Eltern und LehrerInnen dies in sie hineintragen. Ja, Eltern und LehrerInnen. In dieser Reihenfolge, sage ich.
Beginne ich trotzdem bei uns als Schule. Wir als Schulart stehen – im Moment – vor einer fast unlösbaren Aufgabe: Eingebunden zwischen Grundschule und (Zentral)Abitur, sollen wir mit immer mehr, immer jüngeren, immer weniger reifen, immer unkonzentrierteren Schülern in nur acht Jahren das Gleiche wie immer schon erreichen. Die Hochschulen und Industrieverbände merken an, dass uns dies nicht gelingt, sie haben wohl Recht; manche Studiengänge lassen sich nur noch nach universitären Vorbereitungskursen bewältigen. Eine Drucksituation für alle Beteiligten.
Und doch, bei aller unmöglichen Quadratur des Kreises dürfen wir als Schule diesen Druck nicht an die Kinder weitergeben und sie damit kaputtmachen. Leben wir also diesen Satz – „Du bist gut, so wie Du bist.“ – für jedes Kind in jeder Situation. Wer dies nicht kann oder nicht tun will, sollte den Beruf wechseln. (Was im System aber nicht vorgesehen ist, fatal.)
Allerdings geht ein schlechter Lehrer, auch wenn er „großer Mist“ ist, irgendwann vorbei „wie das Wetter“, wie eine Nachbarin, Vierkindmutter mit schwierigen Schulerfahrungen, immer zu ihren Kindern sagte. Ich gebe ihr Recht und sage diesen Satz inzwischen auch zu meinen Kindern, wenn er denn nötig wird.
Eltern dagegen, die ihr Kind mit Ängsten, Besorgnis und übermäßigen Forderungen erdrücken, sind nicht nur „großer Mist“, sie wirken zuweilen tragisch. Sie tun etwas, was sie als allerletztes wollen: Sie verweigern ihrem Kind ein freies, glückliches Aufwachsen, wenn sie an ihm reißen und zerren und das Kindsunmögliche verlangen. Bessere Noten etwa, wenn das Kind einfach nicht mehr kann. Den Verbleib auf dem Gymnasium, wenn das dortige Turbotempo in keinem Bereich zum Kind passt. Selbst wenn das Kind schon aus allen Poren signalisiert, dass es an dem permanenten Gefühl, nicht zu genügen, krank wird, verweigern manche Eltern ihrem Kind einen Schulwechsel. Dabei gibt es zahlreiche Wege, die dem Kind wieder zu einem glücklicheren Sein verhelfen könnten. Wir bieten gerade den Familien, deren Kinder es bei uns nicht „schaffen“, Beratung zu allen denkbaren Facetten an, nehmen uns mehr als für andere Familien Zeit. Allzu oft jedoch werden unsere Einschätzungen und Empfehlungen einfach nur vom Tisch gewischt. Das sind die Gespräche, die Situationen, in denen ich weinen möchte (und es zuweilen tue). Da gehen Kinder vor aller Augen kaputt …
Viele weitere Gedanken dazu finden sich in diesem lesenswerten Artikel, ebenso wie in diesem Blogpost. Den Satz „Wie schlimm eine schlechte Note ist, das definieren die Eltern“ nehme ich mir mit.
Ebenso wie die Empfehlungen: „Gehen Sie in die Apotheke, kaufen Sie eine große Flasche ‚Heitere Gelassenheit‘ und nehmen Sie davon dreimal täglich 20 Tropfen.“ Und: „Immer fröhlich Gesundheit und Glück der Kinder im Blick behalten.“
Kinder, deren Eltern dies verinnerlicht haben, haben es leichter, im Schulsystem mit seinen Unzulänglichkeiten zurechtzukommen. Als Lehrerin habe ich immer nur eine nachgeordnete Rolle.
(Und nein, ich möchte nicht, dass dies als Schuldzuweisung gelesen wird. Jeder Mensch, Mütter, Väter, wir alle, handelt immer aus dem Korsett des eigenen Erfahrens und Erlebens heraus. Den tragischen Schülergeschichten gehen tragische Elterngeschichten voraus, weit über die in meinem Fach verbreitete Ich-konnte-das-auch-nie-Tradition hinaus.)
Wie man es jedoch dreht und wendet: Es bleibt schwierig für alle Seiten. Für die Kinder, für die Eltern, für die Schulen. Wir alle sind mit der Situation überfordert, fühlen uns alleingelassen und finden manchmal keinen anderen Ausweg, als den allseitigen Druck immer nur gegenseitig aufeinander abzuwälzen. Eltern auf Lehrer, Lehrer auf Eltern, und alle zusammen auf’s Kind.
Das darf nicht sein. Das darf so nicht bleiben.
Ich träume von viel mehr Schulpsychologen, von viel mehr professionellen Beratenden, die für uns alle da sind.
Ich träume von einem Netz an Unterstützenden aus der Gesellschaft, damit wir mit Angeboten und Projekten unsere enge Klassenzimmerwelt verlassen können und sich weitere Teile der Gesellschaft mit an der Erziehungsaufgabe, dem Ermutigen, Stärken und Aufrichten der Kinder – und eben dem Abfangen von Druck – beteiligen.
Ich träume von kleineren Klassen und von weniger Unterrichtsstunden, damit Zeit für viele, viele Gespräche bleibt. Denn ja, in Eltern-Kind-Lehrer-Gesprächen mit dem Fokus: „Was wollen wir, was ist realistisch, womit dürfen wir zufrieden oder stolz sein, und warum ist eine 3 nicht schlimm?“ könnte man vieles aufbrechen und abfangen, könnte viele Familien im Umgang mit der Schulsituation unterstützen. Wenn ich solche Gespräche derzeit im notwendigen Umfang anbieten würde, wäre ich wohl bei einer Wochenarbeitsstundenzahl von 100. Ganz ernsthaft. Soviel Gesprächs- und Begleitungsbedarf gibt es. Dem meisten kann ich beim besten Willen und Gespür für die Bedürfnisse der Kinder nicht nachkommen.
Ich träume also von einer tragbaren Arbeitsmenge für mich und meine KollegInnen, so dass wir jedem einzelnen Kind gerecht werden können.
Und nun? Was bleibt nach dem Träumen? Manchen KollegInnen und manchen Eltern meiner Schüler eine Kopie dieses Artikels in den Briefkasten zu werfen? Das würde ich in einigen Fällen wirklich gern tun. Doch das traue ich mich nicht.
Vielleicht ist es ja weit wichtiger und fruchtbarer, wenn ich bei mir selbst anfange. Was also kann ich persönlich tun, selbst wenn meine Träume nur Träume bleiben werden und wenn nach wie vor Familien in ihrer Schulsituation eben sind wie sie sind.
Immerhin kann ich mit den Kindern im Gespräch bleiben, im Unterricht, in den Pausen, bei zusätzlichen Treffen.
Ich kann ihnen sagen und – wichtiger! – vorleben, dass man sich nicht an Zahlen messen lassen muss, dass sich das Wesentliche des Lebens ganz woanders findet.
Ich kann mit ihnen darüber sprechen, dass und wie man sich selbst – und eben nicht primär seine Leistungen – im Blick behalten sollte, damit man gesund bleibt und mit sich selbst in einem stimmigen Gefühl lebt.
Und: Ich kann jedem einzelnen Kind spiegeln, was für ein wunderbarer, wertvoller, einzigartiger Mensch es ist.
Wenn dies in den Kinderherzen ankommen würde, wäre schon viel erreicht.