Und plötzlich bin ich unterwegs. Sie sind unspektakulär losgegangen diesmal, die Ferien. Nicht wie schon so oft: mit wochenlanger Vorfreude, Zählen der Tage, Verfluchen des immer noch davor liegenden Alltags. Diesmal war der Abfahrtstag plötzlich da. Natürlich nicht so plötzlich, dass ich nicht noch alles hätte packen und vorbereiten können, aber es war ein sanfter Übergang. Gerade noch war ich arbeiten, und jetzt sitze ich eben im Auto auf dem Weg nach Norditalien.
Die ganze Hinfahrt lässt mich dieses besondere, neue Gefühl des Unspektakulären nicht los. Der Urlaub, die Reise trägt nicht mehr die Last, ein hervortretender Sehnsuchtsort zu sein, der alles an Träumen erfüllen muss, an denen es im Alltag mangelt.
Nun ja, so neu ist das eigentlich nicht. Schon längere Zeit nehme ich es wahr. Nicht dass ich mich in den letzten Jahren weniger auf mein Reisen freuen würde, nicht dass es mir weniger wichtig wäre. Ich vermute, es hängt zusammen mit einem neuen Blick, einem neuen Angekommensein in dem, was man Alltag nennt, in dem, was da Tag für Tag an Aufgaben vor mir liegt. Ich bin im Frieden mit all dem, so etwas ist es vermutlich.
Das Notizbüchlein, welches mir die Freundin, die beste, neulich schenkte, mit dem Titel „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, dies fülle ich seither regelmäßig. Auf den linken Seiten mit Momenten, die ich als verlorene bezeichnen könnte, auf der rechten Seite mit Stärkendem, Nährendem. Was ich dabei erkenne? Rechts steht viel, so viel, dass ich es oft auf Stichpunkte verknappe, um die Spalte nicht länger als die linke werden zu lassen. Links dagegen gibt es an vielen Tagen nicht viel zu notieren, und wenn, dann sind es am ehesten Momente, in denen mich Emotionen gefangenhalten, welche mir Raum nehmen. Selten sind es Tätigkeiten und To-do-Dinge, welche sich dort finden.
Doch darüber wäre ein andermal nachzusinnen. Für heute wollte ich vom Reisen erzählen. Plötzlich also sind wir unterwegs. Direkt vom Schulschluss auf die Autobahn, mit mäßiger Stauzeit am Gotthard-Tunnel, mit rechtzeitiger Ankunft im kleinen Agriturismo oberhalb des Comer Sees, um dort noch ein wunderbares Abendessen mit viel Rotwein zu bekommen. Die Kinder – sie sind inzwischen auch schon italophil – vertiefen sich in spontan heruntergeladene Italienisch-Lern-Apps. Der Sohn entrüstet sich, dass sich das Italienische partout nicht in die Grundzüge der lateinischen Grammatik fügt, und dass die App gleich am Anfang den Satz „Lei é cane grande.“ (muss da nicht ein „un“ rein?) bietet, wo man den als Tourist ja wirklich nicht brauchen könne. Wobei, fällt ihm dann auf, es gebe schon etliche Situationen, in denen genau dieser Satz außerordentlich witzig wäre. Findet er. Die nächsten Tage werden geprägt sein vom Einwerfen dieses Satzes durch den Sohn in alle erdenklichen Gesprächssituationen. Wir lachen viel. Ja, doch, es war selten so entspannt mit unseren pubertierenden Kindern. Sie genießen das Land, die Sonne, die Stimmung, das Essen. Wir auch.
Und wir erinnern uns. Fahren am nächsten Tag mit der Fähre nach Bellaggio auf die innere Halbinsel des Sees, wo wir vor sieben Jahren eine Herbstferienwoche verbrachten. Alles erscheint so nah. Nur die Kinder sind ein Ende größer geworden.
Am Sonntag dann fahren die Kinder mit dem Papa für eine Woche nach Rom weiter, während sie mich und mein Fahrrad in einem Vorort von Milano abwerfen, damit ich dort die lang schon geplante Po-Radtour beginne. Schon in den letzten beiden Jahren nämlich stand sie auf dem Plan für die Pfingstferien. Beide Jahre jedoch kam unerwarteterweise der Jugend-musiziert-Bundeswettbewerb des Sohnes dazwischen. Und im Sommer wollte sich niemand in diese Hitze hier begeben. Jetzt aber. Es ist warm, es ist trocken, es ist ideales Radelwetter.
Wir trinken inmitten von Hochhäusern noch einen Kaffee zusammen, ich baue alles ans Fahrrad, die Tochter schaut traurig und weint ein bisschen, mit den Worten: „Wenn wir uns wiedersehen, bin ich nicht mehr klein, dann bin ich schon 10.“ (Sie wird in Rom Geburtstag haben; wir feiern dann etwas später, wenn wir uns im Po-Delta wiedersehen.) Und dann sind sie weg.
Ich bin direkt auf dem Radweg entlang des Naviglio-Kanals. So wie alle, alle Italiener, es ist schließlich Sonntag. Auf den Straßen dürfte demnach niemand mehr sein. (Doch, da sind noch welche, ich mache meine ersten Erfahrungen im Umgang mit dem italienischen Straßenverkehr. Es ist anders. Ich erzähle es morgen vielleicht ausführlich, wie ich hier überlebe. Wenn ich bis dahin überlebe:))
Trotz der vielen Radler ist es doch bald sehr ruhig. Rechts am Horizont eine schneebedeckte Alpenkette, neben mir der plätschernde, froschquakende Kanal, die flacheste Landschaft der Welt mit mohngesprenkeltem Grün – es fühlt sich nach wenigen Minuten schon sehr, sehr, sehr richtig an.
Bald liegt das Kloster Morimondo am Wegesrand. Ich suche mir dort eine Bank für mein noch sehr deutsch-lebensmitteliges Picknick inmitten einer volksfestartigen Sonntagsatmosphäre auf den Klosterwiesen. Es ist lebendig, aber nicht laut. Gut, so richtig gut.
Viele weitere Kilometer geht es ruhig am Kanal entlang, bevor ich für eine Weile auf die Straße muss. Hui, das ist unerwartet heftig. Mit Kindern – so wie vor zwei Jahren eigentlich geplant – wäre das wenigstens nervenaufreibend.
Es geht über den Fluss Ticino, und zwar über eine riesige Pontonbrücke. Wie die gewellte Brücke da auf unterschiedlich hohen Schwimmkörpern liegt, die wiederum mit Seilen an dicken Pfeilern hängen, wie es klingt und mit jedem Auto wackelt, das ist schon speziell.
Südlich des Flusses muss ich noch ein bisschen Straße schaffen, bevor es wieder ruhig wird. Hin und wieder mit Ticino-Flussblick, häufiger aber mit Reisfeldern rechts und links des Damms (wie ich auf Twitter lerne), ab und zu mit der Assoziation Havelradweg und in traumhafter Einsamkeit (bis auf ein Packtaschenradlerpaar aus Paris) fahre ich dahin.
Bis ich mich plötzlich auf einem Straßenfest in Pavia wiederfinde. Die Stadt ist voll, die Gassen sind so verstopft, dass ich mein Radl kaum hindurchzuschieben schaffe. Eigentlich wollte ich erst morgen früh in die Stadt, aber der Weg von der Brücke zum Campingplatz führt mitten hindurch. Na gut, so schiebe ich eben. (Morgen werde ich lernen, dass es auch anders geht. Doch davon später:))
Nicht weit vor der Stadt liegt mein Campingplatz, ich bekomme, als Exotin zwischen lauter Wohnmobilen, einen kuscheligen Eckplatz und werde – außer von den deutschen Nachbarn mit den dauerkreischenden Kindern – von allen freundlich beäugt, gegrüßt und angesprochen.
Sitzen, duschen, schreiben, träumen. Und mich dann für die Pizzeria um die Ecke entscheiden, weil diese doch verlockender ist als meine deutsche Tütensuppe. Es scheint hier übrigens mehr als in Deutschland eine Besonderheit zu sein, als Frau (oder überhaupt) allein essen zu gehen. Zwar wird gefragt „sola?“ und das zweite Gedeck weggeräumt, aber danach werde ich lange nicht bedient. Ich schließe zwar die Karte und schaue sehr auffordernd (für das Rufen treffender Worte fehlen mir Italienisch-Kenntnisse), aber nichts passiert. Ich weiß auch nicht, warum. Jedenfalls entscheide ich mich irgendwann für Winken und bekomme – was lange währt, wird endlich gut – wunderbarste Rucola-Pizza mit Vino bianco.
Die Nacht wird gut. Es ist so warm, dass ich den Schlafsack von mir werfe, und so still in der schlafenden Stadt, dass ich den Fluss fließen höre. Was will man mehr.