Menschen #1 – Was wir alle teilen miteinander

Immer schon sind mir die Tage und Wochen nach Weihnachten, diese gerade vergehende stille Zeit ein Brunnen zum Schöpfen. Mit mir allein sein, innerlich an friedliche Orte gehen, dort den eigenen Grund erahnen, endlich wieder, da er im Alltag oft unsichtbar wird. Viel Arbeit bremst viel aus. Beschwerliche Zeiten wie die jetzige drängen den Blick nach innen an den Rand. Die Sensoren für Stimmungen, für Zartes und Zerbrechliches scheinen zuweilen taub und blind.
Was ist da in mir, was ist in jedem von uns? Welche Brücke verbindet das alte mit dem neuen Jahr und uns mit uns selbst? Welche Kraft trägt Dich und Dich und Dich durch all das hindurch? Wo sind unsere gemeinsamen Quellen?

In der Altjahrsnacht blicken wir, Freundin N. und ich, gegen Mitternacht aus dem Fenster. Da ist wenig Lautes, Augen und Ohren können sich öffnen. Menschengrüppchen auf den Straßen, die sich zuprosten. Hin und wieder eine Lichtschnuppe am Himmel. Aus dem Haus gegenüber treten junge Menschen, um nach oben zu schauen und sich zu umarmen. Und dann stehen sie da, still und zusammen, redend. Vielleicht auch über das vergehende Jahr, und über das neue, über Zufriedenheit und Frieden im Innern. Wie wir hier oben am Fenster.
„Schau, die haben sich chic gemacht“, sagt N. „Stimmt“, antworte ich. „Wir ja aber auch ein bisschen.“ Wir müssen lächeln, an uns hinunterschauend. Keine Jogging-Schlabber-Gelassenheit, keine Fleecejacken, sogar ein wenig was Schwarzes haben wir an, zur Feier dieser Nacht zwischen den Zeiten.
Was wir alle teilen miteinander.

Auf dem Rad zurück nach Hause, es ist schon nach Eins. Hin und wieder Menschen an den Straßenecken, mit sich leerenden Flaschen. Die Stadt ist dunkel geworden, die Luft warm geblieben. Eine junge Menschengruppe läuft über die Landstraße zurück ins Wohnheim, sie tragen Musik mit sich. Einzelne Paare am Flussufer in Umarmungen. Ich spüre das Bedürfnis, ihnen allen Neujahrswünsche zuzurufen, nach diesem fordernden Jahr, in welchem wir alle das Gleiche erlebten, irgendwie.
Nur bin ich schüchtern. Jedenfalls so, dass ich dies nicht tue, das Zurufen. Erst kurz vor meinem Zuhause sind es drei Jugendliche, die ein „Gutes Neues Jahr!“ über den Marktplatz meiner kleinen Stadt schallen lassen. Dankbar rufe ich zurück. (Was sie wohl denken, über die fast euphorisch winkende, alternde Frau da auf dem Rad.)
Was wir alle teilen miteinander.

Die Freundin hatte – ich strickte an meinen Socken – erzählt, wie sie einst das Sockenstricken gelernt hat. Einfach hingegangen sei sie, zu den alten Frauen im kleinen Wollladen an der Ecke, die dort saßen und arbeiteten und strickten und saßen. „Und jetzt?“, fragte sie mit dem Sockenschaft in der Hand. Die alten Frauen zeigten ihr, wie man die Ferse strickt. Als sie in an der Spitze angekommen war, ging sie wieder hin.
„Die waren glücklich, mir das beibringen zu dürfen.“ Das glaube ich sofort. Und sie, als junges Mädchen, war glücklich, es so einfach lernen zu können.
Wir geben, wir nehmen. Diese kleinen leisen Alltagsgeschehnisse, die das Ganze tragen.
Was wir alle teilen miteinander.

2 Kommentare

  1. Es tut so gut einmal vom Verbindenem zu lesen, statt Spaltungen voran zu treiben und auf Trennendes hinzuweisen. Herzensdank dafür, liebe Uta und uns allen viele Momente der Stille und des Innehaltens.
    Ganz liebe Grüße an dich, Ulli

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