#ostwärts

#ostwärts-2.3.4 – Fremdes, Eigenes und die Wege dazwischen – unterwegs in Litauen

Der Kiefernwald ist mir sofort vertraut. So wie mir jeder Kiefernwald ein Stück Zuhause ist. Grundmoräne, Endmoräne, Sander, Urstromtal, im Geographieunterricht der Kindheit gepaukt – die Eiszeit hinterließ überall gleichen Grund, gleiche Form, gleiche Gesteine. Und manchmal sogar den gleichen Geruch. In den hiesigen Wäldern – auch die kurische Nehrung entstand aus Endmoränenhügeln, las ich, wie zum Beispiel die Gegend nördlich Berlins – atme ich die Wälder meiner Kindheit.
Sind es solche Dinge, die uns unbewusst das Empfinden geben, an manchen Orten zu Hause zu sein? Ich bin es jedenfalls, hier wie in allen Kiefernwäldern, als ich nach meiner ersten litauischen Nacht gen Klaipeda zurückfahre. Ein Asphaltweg vom Feinsten durch den lichten Wald, schon frühmorgens voller Menschen, die gleichermaßen den Wald einatmen – alte wie junge, schnelle, langsame, Jugendliche in Grüppchen, man radelt, die Fitness-Spielplätze sind bereits belegt, alles bewegt sich hier, an einem Mittwochmorgen, am nördlichen Stadtrand von Klaipeda. Selbst der Weg ist in Bewegung. Dort, wo er zu kurvig verläuft nämlich, entstanden Trampelpfade. Nachsichtige Landschaftsplaner fügten sich – und asphaltierten daraufhin diese Pfade. (Dies sah ich in den nächsten Tagen allerorten. Die Menschen dürfen hier ihre Wege selbst finden und formen. Jeder asphaltierte Trampelpfad macht mich lächeln.)

Ich lächle viel an diesem ersten Morgen am neuen Ort. Mir ist einfach danach, alles ist leicht. Manchmal bekomme ich ein schüchternes Lächeln zurück. Oft aber schaut man weg, wendet mir ohnehin keinen Blick zu. Ja, das ist auffällig. Wenig Blickkontakt, wenig Grüße zwischen Wildfremden auf der Straße. Viel wengier als ich es von unseren Radwegen und zumindest ländlichen Gegenden gewohnt bin (von Berlin&Co spreche ich hier nicht). Da scheint es eine Schüchternheit wie früher bei uns „im Osten“ zu geben: bei den kurzen schnellen Kontakten auf der Straße, dem Lächeln und Zunicken, den kurzen Wortwechseln wirken die Menschen verschlossen.
Das sind sie aber nicht, es scheint nur – ein Erbe der Vergangenheit? – ungewohnt zu sein, miteinander auf der Straße in Kontakt zu kommen.
Im Laufe der Tage aber habe ich ganz wunderbare Begegnungen. Nur die erste Schwelle muss überwunden werden. All die Leute auf den Zeltplätzen, die mich – immer vorsichtig – fragen, woher und wohin. Die Zeltplatzwirtin, die mir extra mit viel Herz und Liebe den allerbesten Platz für mein Zelt sucht. Die junge Familie, die mir stolz ihre deutschen Wörter vorspricht – und erzählt, dass sie jetzt eigentlich gerade in Berlin sein wollten. Der junge Mann, der auf dem Zeltplatz neugierig zu mir schlendert und vieles fragt. Und der mir alle meine Fragen zum Land und zur litauischen Sprache beantwortet, die sich so angesammelt haben. (Und der mir am Ende seinen Namen sagt, den ich aber sofort wieder vergesse. Die Sprache ist eben ungeheuer ungewohnt.) Der Kontrolleur an der Fähre, der mit mir zum Ticketautomat zurückgeht, weil ich sonst bei den vielen Varianten und eben dieser Sprache keine Chance hätte. Der alte Mann am Straßenrand, Äpfel verkaufend, der mich energisch heranwinkt und mir so viele Äpfel in meine Packtaschen stopft wie eben hineinpassen; ohne Geld natürlich – statt dessen gibt er mir seine einzigen zwei deutschen Wörter „Guten Tag“ mit auf die Reise. Der Schiffskapitän, der mich und mein Fahrrad auf die andere Haffseite fährt, das Fahrrad auf dem Dach, die Packtaschen auch, die ganze Aktion ist so spektakulär wie liebevoll. All die hilfsbereiten Menschen am Wegesrand – wen auch immer ich frage, mir wird mit so viel Wärme geholfen, das ist großartig. Eine Reise von Begegnung zu Begegnung.

Zu meinem Erstaunen ist es dabei oft die russische Sprache, die weiterhilft und Brücken schlägt. Mitnichten scheint sie verhasst oder trennend. Im Gegenteil, erzählt mir ein Einheimischer, den ich in der Nähe der russischen Grenze, direkt an der Straßensperrung, treffe. Hier seien es ja nicht so viele, aber in Lettland lebten an die 50% Russen. Überhaupt sei in den baltischen Staaten die Vermischung der Nationen so groß, man heiratet untereinander, die Familien sind verwachsen. Die Verbindungen mit dem Russischen trennen sich nicht wieder, sagt er, und warum sollte man dann nicht weiterhin diese gemeinsame Sprache nutzen, die man nun eben hat. (Zumal: Die drei baltischen Sprachen sind untereinander so verschieden, dass man sich gegenseitig nicht versteht. Man braucht also ohnehin eine Fremdsprache.)
Ein pragmatischer Zugang also, sage ich. Ein normaler Zugang, sagt er. Nur Politiker nutzen die Sprachen zur Trennung – die einen wettern gegen das Russische, um Gelder von der EU zu bekommen, die anderen gegen das Einheimische, um Unterstützung von Russland zu erhalten – alles sei ein Politikum. Die einfachen Menschen beträfe das nicht. So sagt der Mann, dort an der Straßensperrung kurz vor der russischen Grenze.
Übrigens: Er sei ein „Businessman“, erzählt er. Hat ein Geschäft aufgebaut mit dem Import von – Italiener:innen lesen mal bitte kurz weg:) – in Österreich zubereiteten und belegten Pizzen, die auf spezielle Art tiefgefroren werden, so dass sie hier nach dem Auftauen in Pizza-Restaurants verkauft werden können. Die Expertise im Pizzabacken und Pizzaessen gäbe es in Litauen noch nicht so sehr, sagt er. – Vermutlich hatte ich am Abend zuvor genau eine solche Pizza gegessen. Wenn ja: In der Tat hatte sie mit herkömmlicher Tiefkühlpizza nichts zu tun. Mit italienischer Pizza allerdings auch nicht:)
Ein Land zwischen Ost und West, so benannten es die Menschen, die ich traf. Das sich nach der „Unabhängigkeit“ ein Stück weit selbst erfinden musste. Unabhängigkeit schreibe ich in Anführungsstrichen, weil ich auch dies hörte: Früher war da die Sowjetunion, jetzt ist es die EU – unabhängig sind wir auch jetzt nicht. Aha, so kann man es also auch sehen.
Spannende und horizonterweiternde Begegnungen, neue Blicke auf dies und das. Faszinierend, wieviel ich allein in drei Tagen erfahren habe. Ob diese Sichten auf irgendeine Weise repräsentativ sind, ob es nicht in anderen Regionen, anderen Bevölkerungsgruppen oder schon im Gespräch mit anderen Menschen ganz anders ist, weiß ich nicht.
Ich werde weiter zuhören. Es scheint jedenfalls ein Land ohne Verbrauchtes und Abgenutztes zu sein.
Und die russische Sprache öffnet viele Türen.

Ja, Sprache ist Öffnung. So seltsam ist es, auf der Straße kein Wort zu verstehen. Keine Hausaufschrift, keine Bezeichnungen auf den Lebensmitteln im Supermarkt, keine Silbe von sprechenden Menschen – nichts nichts nichts. Nur sehr vereinzelte Wortstämme hängen irgendwie mit dem Russischen oder Polnischen zusammen, nach anderen Wortwurzeln suche ich vergebens. Immer wenn ich denke, einen Kontext gefunden zu haben, bedeutet das Wort etwas komplett anderes. Erst nach Tagen erkenne ich die wichtigsten Ladenaufschriften, weiß – dank einer Tanztrainerin, die diese lauthals und rythmisch in ihre Gruppe ruft – die Zahlen von eins bis vier, kann „danke“ sagen („bitte“ aber immer noch nicht). Das fühlt sich unbehaglich an, ignorant und arrogant irgendwie, nicht mal die Basissilben des hiesigen Miteinanders über die Lippen zu bringen.
Dennoch sauge ich alles Hiesige auf.
Durchruckelt das allgegenwärtige Kopfsteinpflaster mein Rad und mich, dreht sich mein Blick in dem bunten Gemenge aus Alt und Neu, aus Verfallen und Wiederhergestellt im Straßenbild Klaipedas. Das optische Erbe der Sowjetzeit ist mächtig, dazwischen kriechen pulsierende Adern neuer Geschäftstüchtigkeit, knallige Werbung an verrottenden Häuserfronten. Menschen eilen, strömen, leben, lachen, schauen finster, reden miteinander, schleppen Einkaufstaschen mit Bussen nach Hause – jede Gestalt eine Geschichte zum Hineinversetzen.
Atme ich Meeresluft ein, höre ich die Möwen kreischen, fühlen meine Füße (und meine Reifen) Sand, während ich die Nehrung von ihrer Nordspitze nach Süden bis zur russischen Grenze durchfahre, versuche ich mich in dem Einklang von Haff- und Meerwind wiederzufinden.
Blicke ich mich in der Dünenlandschaft bei Nida um und versuche die Sonnenuhr zu verstehen, bin ich gleichzeitig in den Menschen, die dort zu ebenso früher Morgenstunde wie ich auftauchen, kinderwagenschiebend, joggend, meditierend – wir teilen jedenfalls die Andacht des Schweigens an diesem besonderen Ort.
Tönen unzählige Vögel auf meinen einsamen Runden in der Deltalandschaft auf der anderen Haffseite, schwingt das Blau der Lagunen in mir nach, fordert mich gleichzeitig der Sand-und-Waschbrett-Schotter und die Mittagshitze, in der sich hin und wieder eine ebenso müde Gestalt wie ich an den Rändern von Straßen und Gewässern niedergelassen hat.
Durchfahre ich die Landstraßen und Dörfer, sehe ich Störche auf Türmen und einsam auf den Feldern Arbeitende. Die Frau, die einen kubikmetergroßen Sack leerer Pfandflaschen mit ihrem Rad transportiert, der Junge, der Bordsteinkanten mit seinem Rad überspringt – hoch wie runter -, die lebendig gestikulierenden Frauen an der Bushaltestelle, der Mann mit seinem Sohn, der diesen energisch in etwas einweist, die Frau mit den riesigen Blumensträußen, die sie versucht auf dem Rad zu bugsieren.
Solche Straßenszenen wage ich übrigens nicht zu fotografieren. Zu intim ist es, zu nahe, zu eindringend. So halte ich sie eben in meinem Kopf fest. Den Markt in Klaipedas Altstadt, der alte, „echte“, in dem noch aus Eimern und Kübeln verkauft wird, wie es direkt vom Hof kommt, auf dem es duftet wie damals immer. Das Miteinander der Bootsbesatzung, die mich übers Haff bringt, ihre still einvernehmliche Arbeit. Die Kindergruppe auf dem Zeltplatz, die dort spielt und tanzt und aufs Lebendigste verbunden ist. Die Begegnungen der Frauen vor dem Dorfkonsum, die sich – vermutlich – das Neueste vom Tage erzählen.
Lauschend, schauend – im Grunde möchte ich in jedem Dorf bleiben. Und doch – Fluch und Segen – fährt man auf Radreisen halt immer weiter, immer weiter.

Wie bin ich hier per Rad unterwegs? In allererster Linie: holprig. Den Tiefsandführerschein hätte ich bestanden, schreibe ich nach einer entsprechenden Wegepassage auf Twitter. Dazu gäbe es dann noch den Waschbrett- und den Lochasphaltführerschein, antwortet man mir dort. Richtig. Vor allem das Waschbrett ist sehr beeindruckend. Wie sie diese gleichmäßigen Wellen wohl in die Schotterstraßen hineingefräst haben? Zuweilen wird genau die Resonanzfrequenz meines Fahrrads erreicht, dann wirft es mich fast vom Sattel. Im Tiefsand dagegen versuche ich mein Bestes, schiebe aber oft. Und der Lochasphalt ist tückisch, da lässt man die Hände besser sprungbereit an den Bremsgriffen. Zumal auf dem Nehrungsradweg, wo einem permanent andere Radler entgegenkommen, manchmal auf etwa einem Meter Breite. Ein Wunder, dass ich mir bisher weder Knochen noch Speichen (also: die vom Fahrrad) gebrochen habe.
Schon nach wenigen Kilometern kommt jedenfalls Asphaltsehnsucht auf, zuweilen gebe ich dieser nach, indem ich doch größere Strecken Landstraße nehme. Oft waren sie bisher wenig befahren und die Überholabstände der meisten Autos sehr großzügig. Ein Stück Quasiautobahn war allerdings auch dabei: vierspurig und daher – trotz Bushaltestellen, Traktorwendemanövern, Ortseinfahrten sowie Fußgehenden und Radfahrenden – schnell und heftig berast. Äußerst bewährt hat sich dort – wie überhaupt – mein Rückspiegel. Ein gewisses Maß an Urvertrauen braucht es auch. Sowas werde ich jedenfalls möglichst nicht zu oft wiederholen. Dann lieber Waschbrettschotter.
Spannend auch meine Situation an einer einspurigen Baustelle: Autos werden immer wechselseitig durchgelassen, kennnt man ja. Wie oft ist man für dieses Prozedere per Rad zu langsam. Als ich noch mitten auf dem Weg bin, treffen mich die entgegenkommenden Autos und kennen kein Erbarmen. Statt zu bremsen, brettern sie vorbei. Während ich mich an den Seitenrand der Straße quetsche. Dieser jedoch besteht aus einer Abbruchkante in die Baugrube, es ist ein knapper Meter nach unten. Da ich zwischen Rad und Abgrund stehe, bin ich äußerst froh, dass mir ein gemeinsamer Sturz mit dem Rad hier erspart geblieben ist.

Was noch? So viel, so vieles. Ich könnte Romane schreiben, schon nach drei Tagen.
Von der russischen Grenze, zu der ich mich vorwage. Schon 1-2 km vorher ist die Straße gesperrt. Ich fahre trotzdem durch und radele auf einsamen Wegen, in der Stille des frühesten Morgens. Bis die Grenzanlagen in Sicht kommen. Mein mir immer noch innewohnender Respekt vor Grenzen – ostdeutsch geprägt halt – lässt mich innehalten. Aber ich bin zu neugierig, fahre heran, bis ich den Ort per Teleobjektiv festhalten kann. Als sich dort immer noch nichts regt, wage ich mich näher. Und noch näher. Alles still. Und alles geschlossen. Ob sich ein Fernglas auf mich richtet, weiß ich nicht. So nah bin ich dann doch nicht, drehe lieber um, bevor ich es erkennnen kann. Auf dem Rückweg zur Straßensperrung kommt nach einem Elch, der unvermittelt vor mir steht – ich schwöre, das muss einer gewesen sein! – ebenso plötzlich ein Jeep mit zwei Grenzern aus dem Gebüsch auf die Straße. Ob man mich nicht verhaftet hätte, fragt mich später die Frau, die aus dem Wald joggt. Offenbar nicht, sage ich.
Von der orthodoxen Kirche mitten im Vorstadtneubaugebiet, mit ihren Klängen und Gerüchen, in der eine Frau hingebungsvoll den Boden von Wachsresten befreit, während sich eine andere in der Ecke mit ihren Fingernägeln beschäftigt. Da ich mich – mangels Kopftuch – nicht weiter hineinwage, bleibt mir nur dieser kurze Blick. Und der auf die Vorbeieilenden, von der Arbeit kommenden, die doch nicht zu vergessen, vor dem Eingang einmal kurz stehenzubleiben und sich zu verneigen.
Vom Zeltplatz, auf dem das russische Stehklo und auch sonst das Inventar der Vergangenheit dominiert, auf dem man seine 7 Euro aber nur mit Karte zahlen kann, an einem mobilen Kartenlesegerät.
Von den vielen Yoga- und Reiki-Werbungen an allen möglichen Orten. Und dem Mann, der mir dazu erklärt: Man wolle anders leben als die Früheren. Das Frühere, das sei viel Alkohol, russische Lebensart eben, sagt er. Er selbst trinke gar keinen. (Erwähnt er, als ich ihm erkläre, was die Aufschrift Radler auf meiner Bierdose bedeutet.) Jetzt aber schießen Meditationswege wie Pilze aus dem Boden, genauso drückt er es aus. Die Menschen suchen danach.
So vieles noch, so vieles war da … bei Twitter schreibe ich ja auch viel. Die kleinen Details ein wenig festhalten, vielleicht gelingt es schreibend.

Und nun fahre ich weiter, zunächst nach Norden. Heute Abend werde ich in Lettland sein.

#ostwärts-1 – Ein Traum, ein Ziel, ein Plan

Einige Jahre ist es her, ich saß sommers auf dem Rad wie so oft, saß lange auf dem Rad damals, einige Wochen waren es, als mich plötzlich der Gedanke durchfuhr: Dieser Zustand könnte ruhig länger anhalten, ein Jahr vielleicht, dieser Zustand von Fahren und Verweilen, Treten und Sein. Ein Jahr auf dem Rad, wie das wohl wäre? Wohin ich wohl wollte? Wohin ich käme?
Wohin ich wollte? Die Antwort kam mir prompt: In den Osten, in den weiten, sehr weiten Osten. Nach Russland nämlich, in das Land meines Jahres 89/90. Dorthin sollte es gehen. Erstmals blitzte die Idee eines Sabbatjahres auf …

So begann es vor vielen Jahren. Der Traum reifte allmählich zum Ziel. Sabbatjahr geht erst, wenn die Tochter 18 ist, das war klar. Vorher aber kann ich den Osten „anfahren“, Sommer für Sommer, immer ein Stück weiter. Und deswegen wurde die Route im Kopf länger und länger. Hatte ich anfangs noch das europäische Russland vor Augen, stand eines Tages – genauer: eines Nachts war es – der Baikalsee vor meinem inneren Auge. Der Baikal, dieser tiefe See im fernen Sibirien, an dessen Ufern wir damals, am Ende meines Moskau-Jahres, für nur wenige Tage sein konnten. Viel zu kurz, viel zu flüchtig. — Nun ist er mein Ziel.
Was ich mir noch alles hineinträume in diese ferne russische Welt und meine Wege dorthin, das werde ich im Laufe der Reise erfahren. Und vielleicht auch erzählen. Im Moment wirkt es mir wie ein Paradies. Ein Magnet, der mit jedem Reisebericht, mit jeder Reportage, mit jeder Zeile, die ich über Russland erlese, stärker wird. Als wäre dort mein Land, mein Ort, meine Heimat.
Verrückt, ich weiß. Der See ist fern, das Sabbatjahr auch, ich nicht mehr jung, man weiß nie, was noch kommt und was gehen wird, gesundheitlich und überhaupt. Und doch: Der Baikalsee.
Aus dem Ziel erwuchs nach und nach eine Route, eine zeitliche Vorstellung, ein Plan. Ein paar Sommer bis zum Sabbatjahr sind es noch, man kann stückeln, sich jedes Jahr ein wenig mehr nähern – ins europäische Russland, Petersburg und Moskau natürlich, dann zum Ural, erste Wege nach Sibirien. Jahr für Jahr ein Stück.So dass ich dann – im Sommer, in welchem das Radreisejahr beginnt – schon nahe genug bin, um den See vor Wintereinbruch zu erreichen. Dort dann überwintern und über irgendeine südlichere Route zurück.

So weit, so sehr lebt es in meinem Kopf. Und dieses Jahr sollte der Anfang meines #ostwärts-Projektes sein. (Genau genommen hat es ja vor x Jahren begonnen, unbemerkt noch: Wenn der Weg von meinem Zuhause nach Berlin der eigentliche Anfang war, dann bin ich ihn 2016 und 2017 schon gefahren, je einmal mit jedem Kind. Was für ein schöner Beginn einer langen Reise.)
Dieses Jahr also sollte es in Berlin losgehen. Oder weitergehen. Von Berlin aus mit wenigen deutschen Kilometern nach Polen, querdurch, dann Kaliningrad – Litauen – Lettland – Estland. Viel mehr passt nicht in einen Sommer. So war also der Plan, wie er sich noch im Winter geformt hatte.
Was dann geschah, wissen wir. Schnell wurde klar: Kaliningrad, russisches Gebiet, lässt sich dieses Jahr nicht bereisen. Dann sah es – im April – so aus, als wäre gar kein Ausland möglich. Ich hatte jegliche Reise abgeschrieben. Im Mai/Juni jedoch kehrte mit den sinkenden Corona-Zahlen meine Zuversicht zurück: Vielleicht lässt sich doch radreisen, wenn ich nur das Kaliningrader Gebiet umfahre. Ansonsten der Europäische Radwanderweg R1 als Leitroute, ich bestellte mutig das Kartenmaterial und war ebenso mutig im Vorfreuen. Immer mehr. Nach diesem Jahr, diesem Schuljahr, dieser erschöpfenden Zeit, die an jegliche Grenzen gegangen war, wurde mir mein Plan zum Refugium.
Nun, und jetzt kamen die Zahlen zurück, noch bevor bei uns die Ferien begonnen hatten. Tag für Tag starrte ich in die Reiseinformationen der App des Auswärtigen Amtes, der Trend wurde klar. In Polen wächst die Infektionsrate wieder, noch früher als bei uns, und das Baltikum hat strenge Einreiseregeln. Es war eine Sache von Tagen, ich konnte es vorab hochrechnen, dass Litauen Menschen, die durch Polen anreisen, unter Quarantäne stellen wird. (Und genau seit gestern ist das tatsächlich so.)

Da saß ich also in Berlin, auf gepacktem Rad, das mich eigentlich via Küstrin, Poznan und Gdansk ins Baltikum bringen sollte, und schon vor der Abreise war klar, dass diese Reise an der polnisch-litauischen Grenze enden wird. Was jetzt?
Nur durch Polen, dort umhertreideln und verweilen? – Das Land kenne ich schon, von früher, es hat wenig Fremdheitsnimbus für mich, es lockt mich für diesen Sommer nicht, denn es sollte nur Durchgangsort sein … ich konnte mir dies nicht vorstellen.
In Deutschland bleiben? Irgendetwas ganz anderes machen? – Nein, meine #ostwärts-Sehnsucht nagt zu sehr.
Ein Ausweg blieb: Die Fähren ins Baltikum. Was eigentlich nur für den Rückweg dienen sollte, wird jetzt vielleicht zweimaliges Transportmittel – wer weiß, so genau kann man das in diesen Tagen ja nicht sagen.

Und so sitze ich nun auf einer solchen Fähre. Knapp habe ich sie in Kiel erreicht, nach holpriger Bahnfahrt aus Berlin, Ticket am Hafen gekauft, ein wenig umgepackt, um für die 20 Stunden nicht alle Packtaschen mit in den Ruheraum zu nehmen, vom Shuttlebus auf das Autodeck navigiert worden, Rad auf dem Autodeck abgestellt … und dann ging es los.
Dann ging es vor allem im Innern los. In dem Moment, als Kiel noch zu meinen Füßen lag, die Sonne sich daran machte, hinterm Horizont zu verschwinden, das Schiff ächzte und tutete und zu rauchen begann und zu vibrieren, als all die mitfahrenden Menschen aufgeregt das Ablegemanöver bestaunten oder es einfach nur stumpf beguckten, ich erste Seereisefotos in die Twitterwelt verschickte, von dort und woanders Mitfreudewünsche für meine baltischen Wege eintrafen, als ringsum die Dichte der russischen Stimmen zunahm, als also meine Reise zwar umgeplant, aber nun doch zweifellos direkt vor mir lag, da kam das Reisekribbeln zu mir. Noch wenige Stunden zuvor war es so fern wie nur irgendwas gewesen.

Nun also: Ich reise. Sehe, was sich vor mir öffnet. Die weiße unbefleckte Landkarte der baltischen Länder, über die ich so wenig weiß. Schon die Menschen auf dem Schiff, etliche sind wohl Litauer*innen, deren Sprache ich nicht ansatzweise verstehe. Das sicherlich fremdartige Straßenbild dort, die Verhaltenscodizes, die mir nicht vertraut sind, mein wohl unweigerlich immer suchender Blick nach dem Bekannten – dem Russischen? dem Sowjetischen? werde ich etwas (wieder)erkennen? – und meine unglaubliche Neugierde auf das Unbekannte. Ich freue mich!
Das, was nicht geht, was für dieses Jahr verschlossen bleiben wird – die Wege durch Polen und Russland – tritt in den Hintergrund. Sie lassen sich ja nachholen. Oder auch nicht: Jetzt erstmal bin ich anders unterwegs als ich dachte, aber doch ist es „meine“ Reise.

Seltsam, wie einem Planungen im Weg stehen können. Wie sie mich die letzten Tage in Berlin irritiert, wie sie mir die dortige und die kommende Zeit fast schon zerstört haben. Wie ich starr war in dem, was ich doch so lange für mich als Plan festgezurrt hatte, starr und gefangen und unfrei im Neuentscheiden. Mich hat es erschreckt. Mein Ich und meine Pläne als Konstrukt, dem ich mich selbst ausliefere. Warum habe ich mir den Ausweg nicht früher gestattet? Warum kein flexibles Abweichen zugelassen? Warum mich nicht eher öffnen können für das Ungeplante? Warum habe ich die jetzigen Pläne noch so lange als Ersatzreise empfunden – eigentlich ja, bis ich auf’s Schiff stieg?
Meine Pläne und Prinzipien und Routinen und Rituale – es gibt so vieles im Alltag, wo ich unflexibel, fast schon verbohrt und verbissen bin. War das schon immer so? Sind mir Pläne und Prinzipien ein Gerüst, ein Halt, wenn die Kraft sonst nicht reicht?
Weil jegliches Umentscheiden, weil jedwede kleine alltägliche Entscheidung letztlich Raum fordert, ist es erleichternd, viele Abläufe festgezurrt zu haben. Soweit, so richtig – vermutlich für viele Menschen. Der Sinn der Rituale. Doch andersherum gesehen ist jedes Ritual ein bequemes Eingerichtetsein, oft auch fehlende Offenheit. Oder nicht?
Und lasse ich die Dinge offen, verliere ich möglicherweise die Kontrolle über sie.

Und nun stehe ich am Beginn einer wochenlangen Reise, von der ich keinen Zielort, keine Wegführung, keine Transportmittel für den Rückweg kenne. Ich weiß nur, dass am 14. September die Schule wieder beginnt. Und bis dahin gibt es in meinem Gepäck einen Reiseführer, eine Landkarte und einen Radwanderführer der baltischen Länder. Mehr nicht.
Ich bin gespannt, sehr …

Die Fähre läuft ein. Vorher schon kündigt sich Litauen mittels Zeitverschiebung auf dem Handy an.
Ein Loswuseln an Bord, alle greifen ihre unzähligen Gepäckstücke, autofahrende Menschen drängeln unsinnigerweise herum – sie können ihr Auto eh nicht fliegend aus dem Bauch des Schiffes befreien. Lediglich wir vier Radfahrenden, wir können uns durchschlängeln – und tun dies auch. Sind mit die ersten, die das Schiff verlassen.
Ein Hafen, ein kaum zu findender Ausgang, eine Grenzkontrolle (ungwohnt für uns Schengen-Verwöhnte) empfängt uns. Die Vororte eine belebten Stadt, Radwegeslalom, wilder Verkehr, Hupen, Rasereien, vertraute sowjetische Satellitenstadtbauten. Also doch: schon hier Vertrautheit – und warum ich diese schön finde, diese alten, abgelebten Gebäudemonster, dies wird ein andermal zu ergründen sein.
Ich entscheide mich dafür, einfach durchzufahren, alle Wegränder aufzusaugen, nichts zu fotografieren, einfach auf dem Weg zu sein, wie er zufällig an mir vorbeikommt. Morgen werde ich – der Lage der Campingplätze geschuldet – hier wieder vorbeikommen, da nehme ich mir Zeit für die Stadt.
Jetzt bin ich nur auf dem Weg zum Zeltplatz im Norden der Stadt …
14 Fahrradkilometer später baue ich – nach Anmeldeprozedere auf Russisch: wie sehr ich das genieße:) – in einem Kiefernwäldchen mein Zelt auf. Die jungen Radreise-Zeltnachbarn sind alles Hiesige, man radreist hier offenbar viel und gern. Sie erzählen mir, dass eigentlich nur die Alten Russisch sprechen (und staunen, dass ich dies auf der Fähre, in der Stadt und hier auf dem Platz schon ganz anders erlebt habe). Sie lächeln ganz bescheiden, als ich mich so offensichtlich aus jeder Pore freue, hier zu sein. Der Weg zum Strand sei kurz, sagen sie. Ich gehe hin. Die Sonne ist schon untergegangen und hallt noch rot nach, ich kaufe mir ein Bier, ein hiesiges natürlich, sitze und schaue. Da ist das Meer. Zunächst einmal ist da viel Meer. Und meine Fähre macht sich in der Ferne gerade auf den Rückweg.

Nun denn – auf geht’s: Zur südlichen Grenze von Litauen mit Russland. Von dort allmählich zur nördlichen Grenze von Estland mit Russland. Das soll meine erste Orientierung für die Reisewege sein. Aber wer weiß, wohin es mich in den nächsten Tagen und Wochen wirklich bringen wird.