Alles ist komplex und miteinander verzahnt. Jede einzelne Bewegung im Cellospiel besteht aus einer Kette ineinandergreifender Abläufe. Nehme ich nur mal den linken Arm: Seine vielen Gelenke – ich zähle 17 – bilden in ihrem Tun ein System symbiotischer Vernetzung, in dem jedwede Aktivität eines einzelnen von ihnen das Mittun aller anderen bedingt und bewirkt. Während am unteren Ende die Finger scheinbar wie von allein an die richtigen Stellen auf dem Griffbrett gelangen, sich in ihren je drei Gelenken beugen und strecken und somit das Ihre zu den entstehenden Tönen beitragen, bewegt sich unweigerlich immer auch das Handgelenk, es dreht sich und kippt und stellt sich in geeigneter Neigung auf. Natürlich ist dabei der Unterarm beteiligt. Und folglich der Ellbogen. Daran hängend der Oberarm. Letztlich die Schulter. Zuweilen sogar das Schulterblatt, der halbe Rücken gar. Was für ein Prozedere: Alle Gelenkstellen eines riesigen Armes fügen das Ihre zusammen, um in den winzigen Fingerkuppen zu münden. Ja, letztlich beginnt jeder gegriffene Ton an der linken Schulter.
Nun, es ist leicht, mit der großen Schulter eine Wirkung auf die winzigen Finger auszuüben. Kraft hat sie genug, Einfluss – durch Muskeln und Sehnen vermittelt – auch. Sie kann den Ellbogen hochhalten oder ihn niederdrücken. Sie kann als Hebel den gesamten Unterarm in Schwung bringen. Sie kann sogar den fernen kleinen Finger stützen, wenn dieser – als schwächster von allen – Muskelkraft von anderen Orten leihen muss. Sie hat also Macht.
Doch: Sie sollte dabei nicht zu sehr agieren. Ich weiß das ja. Angespannte Schultern, hochgezogene gar – wie gut ich das aus verschiedensten Lebenssituationen kenne. Immer ist dies ungut. Die Schulter also sollte an ihrem heimischen Ort ruhen, ganz friedlich und entspannt. Und mit ihr sollte der gesamte linke Arm gelassen bleiben. Durch seine Schwere kann er am aufgesetzten Finger mehr oder weniger hängen, die Gewichtskraft als Helferin nutzend, die Eigenaktivität auf ein Minimum reduzierend.
Genau das aber – geringe Aktivität, Passivität gar – halten meine Muskeln offenbar schwer aus. Sobald ich nicht meine volle Konzentration darauf richte, ihnen Gelassenheit zu verordnen, geraten sie ins übereifrige Wirken. Sie halten Arm und Ellbogen hoch, oder sie ziehen diese nieder. In der ausgewogenen Mitte dazwischen zu bleiben, gelingt ihnen kaum je. Meine Muskeln arbeiten gern hart und unverdrossen.
Eine lange Weile ging es ja gut. Obwohl sich bei allen Bewegungen mit ihren unzähligen Freiheitsgraden sicherlich immer schon falsche, ungeschickte, sogar schmerzende Haltungen dazwischengeschoben hatten, machte mein Arm das lange großartig.
Bis ich im Sommer begann, gleichzeitig am Vibrato und an der Daumenlage zu üben. Bei beidem bekommen Schulter und Oberarm eine veränderte Rolle, eine andere Position, variierte Bewegungsabläufe.
Und plötzlich wurde es zuviel. Denn es begann zu schmerzen. Anfangs nur ein bisschen. Wenn ich zu lange Daumenlage geübt hatte, dann zog es im Oberarm. Ich übte daraufhin auch nicht mehr allzu lange weiter, immer nur noch ein bisschen. Wenn ich ganze Tonleitern und Stücke als Vibratoübung genutzt hatte, dann lahmte der Arm. Ich hörte schon wenige Minuten, spätestens eine halbe Stunde danach auf. Ein wenig Schmerz kann man ja aushalten.
Währenddessen versuchte ich, meine offenbar ungeschickten Bewegungsabläufe zu korrigieren – durch Anschauen meiner Lehrerin und anderer Cellisten, durch Nachlesen, durch grübelndes Reflektieren. Es stellt sich aber immer wieder heraus: Die Anatomie zweier Menschen stimmt offenbar nur in groben Zügen überein. Die richtigen, die stimmigen Abläufe lassen sich weder denkend durchdringen und erlernen noch von einem anderen Menschen abschauen. Der Arm meiner Lehrerin ist nicht meiner, ich kann ihn nicht kopieren, das Wesentliche ist unsichtbar, es ist so kompliziert wie im Gesangsunterricht.
Und weil ich keine Lösung für mein Problem fand, übte ich immer weiter. Ich übte durch die Anspannung und das Unbehagen hindurch. Er wird schon verschwinden, der Schmerz, dachte ich all die Monate, mein Körper wird es schon richten. Ich muss nur hartnäckig und ausdauernd und fordernd und eben auch ein bisschen hart zu mir sein. Dann wird das schon.
Seit Monaten also spricht mein Arm zu mir, doch ich höre ihm nicht zu.
Es schmerzt. So weit, so schlecht.
Seit einigen Tagen steht mir klar vor Augen: Es wird eben nicht. Kein einziges Mal verlasse ich den Cellostuhl ohne Unbehagen, inzwischen schmerzt der Arm mal mehr mal weniger auch zwischendurch, der Fingerzeig des Körpers ist offensichtlich.
So trug ich es gestern zu meiner Lehrerin. Aha, sagte sie. Und dann kam aus ihr genau dieser Satz mit dem Fingerzeig. Ich hätte sie dazu ja eigentlich nicht gebraucht. Und: „Nun muss ich Dich doch mal bremsen.“ Wenn ich es schon selbst nicht kann, ergänzte ich stumm für mich.
Und dann sprachen wir über meinen Raubbau an mir selbst. Üben in den Schmerz hinein. Immer weitermachen, wenn es eigentlich nicht mehr geht. Mir keine Pausen gönnen. Voraneilen, wenn Innehalten angezeigt ist. Mit Willen erreichen wollen, wofür der Boden noch nicht bereitet ist.
Ein Spiegel. Mein Cellospiel ist mir mal wieder ehrlichster Spiegel.
Und jetzt?
Setz ihn ab, den Arm, immer wieder. Lass ihn hängen. Er braucht die Pausen zwischendurch. (Machte ich doch noch nie …)
Lass die Schulter unten. Die Schulter hat keinen aktiven Part. Leg Dir ein Kissen darauf, damit Du das nicht vergisst. (Die Schulter war doch so schön praktisch, um Druck nach unten weiterzugeben …)
Lass jede Bewegung aus einer natürlichen Lockerheit erwachsen, lass den Ellbogen immer wieder fallen und hängen, so dass er in keinem Moment fixiert bleibt. (Aber so habe ich zu wenig Kontrolle über alles …)
Wenn es schmerzt, variiere die Haltung. Meist reicht es, Ellbogen, Handgelenk oder Fingerwinkel um einen Millimeter zu verändern. Spür jedes Mal hin, bei jedem einzelnen Ton, bei jedem einzelnen Griff. Und richte die Armhaltung in jedem einzelnen Moment immer wieder neu aus. (Aber dann muss ich ja langsam spielen, kann keine schnellen Läufe mehr üben …)
Versteife Dich nicht, auf keine Haltung, auf keinen Ablauf, auf keine fixierte Bewegung. Bleib immer in Gelassenheit, erfinde jede Bewegung neu. (Aber meine Routinen, mein Gewohntes, die sind mir so sehr Gerüst …)
Übe in den nächsten Wochen nur ein Stück. Wir nehmen den Bach, der liegt gut für die linke Hand. (Aber der Duport, und der Romberg, und der Vivaldi, und der Squire …)
Übe auch nicht mehr so viele Etüden. Nur die Lagenwechsel, nichts anderes, immer nur diese Sprünge. Der linke Arm muss bei jedem Lagenwechsel locker hinunterfallen, genau das braucht er jetzt. Lass die anderen Stellen weg. Und nein, keine neue Etüde. (Aber ich hab doch immer jede Woche eine neue Etüde gemacht …)
Nimm diese Tonleiter, keine neue, und gehe ganz langsam und bewusst in die höheren Lagen. Immer wenn der Arm nicht mehr spannungsfrei liegt, brich die Bewegung ab und suche sie neu zu erfinden. (Aber dann ist es doch keine Tonleiter …)
Übe um Gottes Willen keine Daumenlage im Moment. (Aber … wo bleibt dann die Herausforderung …)
Uiuiui. Schmerz, Langsamkeit, Erschöpfung und Grenzen anzuerkennen – was für ein Lebensthema.
Und das Cello mal wieder – was für ein Lebenslehrer. Im Verbund mit meiner großartigen Lehrerin.
Danke.
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