Die Menschen am Fuße der Berge #2

Eigentlich heißt er ja Narcisio. Aber so nennt ihn hier niemand. Wir lernten Narci vor Jahren kennen, als in unserem kleinen Hotelchen ein Carnevale-Fest unter dem Motto „Die Berge und wir“ gefeiert wurde. Eine Schar Bergführer war auch eingeladen. Männer aus dem Dorf, die – zumeist neben einer anderen Arbeit oder der Rente – Fremde und Ungeübte auf Pfade hoch oben im Dolomitenfels führen.

Das war DIE Idee für Vater und Sohn, damals kaum zehn Jahre alt. Eine mehrtägige Wanderung hoch oben von Hütte zu Hütte, so wollte der Vater mit dem Sohne unterwegs sein. Und mit Narci eben.
Es war eine großartige Tour, so bezeugen es Bilder, ein Filmanfang und Erzählungen. Bis zu dem Moment, da der Vater, der alpin eigentlich sehr erfahrene, stürzte. Ein unerwarteter und unerklärlicher Geröllrutsch unter den Füßen, und schon war der Arm gebrochen. Dies wussten die drei in dem Moment noch nicht. Nur dass es so nicht mehr weiterging oben in der Höhe. Abstieg zur nächsten Hütte, mit dem Hubschrauber ins Tal, Ende eines Bergweges.

Was zugleich den Anfang unserer näheren Bekanntschaft mit Narci bedeutete. War er es doch, der ins Krankenhaus mitfuhr und mit dem Sohn den langen Abend über in einer Pizzeria saß, der das Kind beruhigte und behutsam durch die Wartestunden begleitete, während der Vater seine Krankenhausuntersuchungen durchlief. Und während Narcis erwachsener Sohn mit seinem Auto das Gepäck von der Hütte holte und die nächsten Übernachtungen regelte. Ein spontan entstandenes Netz fing alles auf, und auch medizinisch ging es letztlich glimpflich aus. Am Ende war aus der Notsituation eine enge zwischenmenschliche Verbindung geboren, die bis heute nicht abreißen sollte.

Ich kannte Narci lange Zeit nur vom Erzählen, von Fotos und von den Berichten über die Unfallstunden. Es mag zwei Jahre später gewesen sein, dass ich ihn in „echt“ kennenlernte. Eines Winters besuchte er uns in unserem Hotelchen zum Abendessen.
Es war Sympathie auf den ersten Blick. Noch im Nachhinein atmete ich auf, dass mein Kind damals in den gewiss nicht leichten Stunden von diesen warmen braunen Augen und dieser zugewandten Stimme begleitet gewesen war.
Wir verbrachten einen gesprächsgefüllten Abend mit Themen rund um alle Seiten des Lebens. Als würden wir uns schon ewig kennen. So einen intensiven Zuhörer erlebte ich selten. Keinen Satz, den er nicht wahrnahm, keine Randbemerkung, die ihm entging, keine Andeutung, die er – mit dem fragenden Blick, ob dies auch ja gewollt sei – nicht aufgriff. Ein Gespräch, das einen hinterlässt wie in in eine wärmende Decke eingehüllt.

War es im Jahr darauf oder noch ein Jahr später? Wir erfuhren es in unserem Hotel. Narcis Sohn war gestorben. Sein einziger, schon erwachsener Sohn. Der damals das Gepäck gefahren hatte.
In diesem Jahr sahen wir Narci nicht, er hatte sich aus dem Bergdorf ins Tal zurückgezogen. Wir schrieben eine Karte, später einen Brief, im nächsten Jahr noch eine Karte. Was man so hilflos aus der Ferne tun kann, wenn es mitschmerzt und man dies zeigen möchte.

Nun, und dieses Jahr, der Tod seines Sohnes mag drei Jahre her sein, meldete sich Narci erstmals wieder bei uns, während wir unsere Winterferienwoche im Bergdorf verbrachten. Hach. Ich lächelte schon, als der Name am Telefon erklang. Wie wunderbar, diese Neubegegnung!
Wieder saßen wir einen langen Abend beim Essen zusammen, und bei Rotwein. Wie sehr wir immer wieder an ihn gedacht hätten, sagten wir. Dies bedeute ihm sehr viel. Und dann erzählte er. Von seinem täglichen Weg zum Grab. Vom veränderten, zerrissenen Alltag. Vom Weiterleben nach dem Unfassbaren. Dass nun alles seine Perspektive, seinen Sinn verloren habe, dass alles ohne Zukunft verblieben sei. So etwa verstand ich sein Italienisch-Englisch.
Dieser Satz brannte sich mir ein, schon zu Beginn des Abends: Alles ohne Perspektive, ohne Sinn, ohne Zukunft.

Und dann sehe ich ihn an unserem Tisch sitzen. Äußerlich fast unverändert, ein wenig grauer vielleicht, aber das sind wir ja alle geworden. Die Augen genauso warm, die Stimme so sanft, sein Zuhören immer noch ebenso zugewandt. Die Tochter gewinnt ihn sofort lieb, das spüre ich. Vor drei Jahren sprach sie noch kein Englisch, jetzt führt sie das Gespräch, wickelt ihn im Laufe des Abends mehrfach um den Finger, richtet flink eine gemeinsame Whatsapp-Gruppe auf all unseren Handys ein, damit wir ja nicht wieder den Kontakt zueinander verlieren. Und lacht mit ihm. Er lacht mit ihr. Die gesamte Atmosphäre ist so liebevoll. Er fragt uns aus, nach unserem Leben, nach unseren Dingen, will alles genau wissen, staunt.
Und erzählt selbst. Von seiner Motorbike-Reise zum Nordkap, und dass er sich dies auch einmal per Fahrrad vorstellen könne. Von seiner Reise nach Deutschland, wo er mit seiner Frau die verwaiste Sohnesfreundin besuchte, welche dort versucht ein neues Leben zu finden. Von der kleinen Hütte in den Bergen, die er vor Jahren mit eigenen Händen für seinen Sohn gebaut hatte. Nun verwuchert sie. Aber wenn wir ihn dort besuchen wollten, sagt er, würde er eine Schneise in die drei Jahre alte Wildnis schlagen und uns gern dort willkommen heißen. Von seinen Bildern erzählt er – er malt. Die Berge vor allem malt er. Uns hat er ein Bild mitgebracht. Und einen Bildband, an dem er mitgewirkt hat. Seine geliebten Berge.
Er erzählt, dass er nur noch wenige Jahre bis zur Rente habe und sich auf die Pensionierung freue, weil er dann noch viel mehr malen könne. Dass er seither nicht mehr als Bergführer gearbeitet habe. Es aber für eine Tochter-Vater-Tour noch einmal tun würde. Es muss sich ja nicht jedesmal jemand den Arm dabei brechen, ergänzt er lächelnd.

Immer wieder schaue ich ihm beim Erzählen zu. Alles klingt so lebendig und lebenslustvoll. Und doch hängt all die Zeit sein Satz im Raum:
Alles ohne Perspektive, ohne Sinn, ohne Zukunft.
Ich ahne. Und ahne doch nicht.

***

Ist es Zufall, dass mir gerade jetzt, da ich diesen Text schon lange geplant hatte, ein Herzensanliegen über den Weg gelaufen kommt, als hätte Frau Soso geahnt, worüber ich in diesen Tagen schreiben möchte? Wie passend …
Ich bin zwar schlecht im Werbungmachen, aber DAS ist mir so wichtig, so wertvoll, so unbedingt einer jeden Unterstützung wert:

Wenn Kinder sterben und Eltern weiterleben. Eine Webseite, die nährt und die Nahrung braucht.“

Soso schreibt:  „Viel Zeit und Herzblut habe ich schon in dieses Projekt investiert und mich gestern – aus Gründen wie Arztrechnungen und »Ich brauche unbedingt neue Turnschuhe« – sogar dazu durchgerungen, dort ein Spendenschweinchen einzurichten. Oder vielleicht auch aus dem Gedanken heraus: Ich gebe etwas in die Welt, also darf mir die Welt dafür etwas zurückgeben. Das Prinzip des Ausgleichens. So was in der Art.

Danke für Eure Unterstützung.

8 Kommentare

  1. Ein eindrucksvoller, eindrücklicher Bericht. Und die Auflösung zum vor Jahren geschriebenen Blogbeitrag, als Du den Unfall nur als Krankenhausaufenthalt erwähntest – wenn ich mich richtig erinnere.

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  2. Liebe Frau Rebis, während ich den Artikel las, dachte ich immer wieder an Soso und was es mit ihr gemacht hat, als sie ihren Sohn verloren hat und ich dachte diese Woche immer wieder an deine Zeilen, die du nach der Beerdigung geschrieben hast- wieder einmal blickte ich voller Dankbarkeit auf meine erwachsen gewordenen Kinder, auf die Enkelkinder-
    Mmanchmal denke ich anders herum, in diesem Fall: dass bei all dem, was in der Welt tagtäglich passiert/passieren kann es nahezu ein Wunder ist, wenn die Kinder gesund und munter gross werden können und dürfen. Bei allem wo sie uns fordern, auch herausfordern, uns nerven,gilt es doch immer den Blick darauf zu wenden, so, wie du es so berührend getan hast, dass sie da sind, dass es ein Wunder ist und bleibt und dass sie gesund ist!

    Narci muss ein sehr besonderer Mann sein, wie traurig es ist zu lesen, dass für ihn nun der Sinn, die Zukunft verloren scheint. Vielleicht gibt es wirklich nichts Schlimmeres, als das eigene Kind zu verlieren… bitte nicht!

    Herzlich grüsse ich dich
    Ulli

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    1. Liebe Ulli,
      nicht nur nahezu ein Wunder, das mit unseren Kindern, es IST eines. Das größte der Welt. Seit einigen Jahren ist mir dieses Thema sehr nahe … und nachdem ich nun viele Minuten gerungen habe, wie ich davon hier in einem schmalen Kommentar schreiben könnte, scheint dies doch nicht zu gehen. Ein Thema für einen langen Abend am Lagerfeuer.
      Ja, es ist umgekehrt. Wieviele Zeiten gab und Orte gibt es auf der Welt, in denen nur wenige Mütter ihre Kinder gesund aufwachsen sehen dürfen. Wir sind so unendlich reich beschenkt.
      (An Soso denke ich in diesen Tagen auch viel. Und an all die anderen verwaisten Eltern, die ich kenne. Es lesen einige hier mit, das weiß ich. Ihr seid mir sehr nahe …)
      Du Liebe, es ist so wichtig, sich seine Dankbarkeit zu bewahren und immer wieder bewusst zu machen. Das fängt ja bei viel kleineren Dingen als den Kindern an …
      Und Narci ist tatsächlich ein sehr besonderer Mensch. Noch selten habe ich nach nur wenigen Stunden Gespräch – und dann auch noch in Holperfremdsprache – jemanden so in mein Herz geschlossen.
      Herzlichste Nachtgrüße an Dich,
      Frau Rebis

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