Wegpunktzufälle

Irgendwann tat ich es schon einmal. Damals strengte mich meine ewige Bildsuche sehr an, ich hatte diese Idee und war neugierig auf das, was geschehen würde.
Diesmal liegt mein Motiv noch etwas tiefer: Überfordert fühl(t)e ich mich, hilflos gegenüber dem Vielen, unfähig eine Auswahl zu treffen. Beim Fotografieren so wie bei sonstigen Dingen.

Und so tue ich plötzlich, was ich auch damals tat, und was mir der Herr Irgendlink hoffentlich nicht als Plagiat auslegen wird, denn es ist keines: Ich radle los und fotografiere meinen Weg in vorgegebenen Abständen. Genau dort, wo der Kilometerzähler Stopp gebietet, und nirgends sonst.
Hätte ich am Morgen schon geahnt, wie weit mich meine „kurze“ Samstagsrunde tragen würde, hätte ich wohl einen weiteren Rhythmus als 5 km gewählt, 7 oder 13 oder so. Doch auf einen 10-km-Abstand möchte ich die Bilder jetzt nicht mehr ausdünnen – dies ist ja keine Primzahl (;-)), und dies wäre dann tatsächlich Irgendlinks Zahl.
Nun also: Viele viele Bilder werden es. Alle 5 km nehme ich vier Blicke auf, in jede Richtung einen. Ich fotografiere mit festgelegter Brennweite und gebe mir auch sonst keine großen Entscheidungsmöglichkeiten bei Motivwahl, Tiefenschärfe oder Ausleuchtung. Was an jenen Fleckchen sich befindet und wie es sich im Licht des Moments zeigt, genau dies hält meine Kamera fest. Was aber in den Zwischenzeiten und Zwischenorten meinen Weg kreuzt, bleibt unfotografiert …

Wie schwer dies anfangs ist. Gänzlich unfotogene Ansichten landen im Apparat, wohingegen ich an zauberhaften Herbstnebelfarben, an fließenden Lichtwolken, an schimmernden Landschaftswellen vorbeirauschen „muss“, ohne sie mir auf mein Speichermedium zu bannen.

Wie das eben so ist, hier an der Strecke, und auf meinen täglichen Wegen, denkt es in mir. Haben wir eine Wahl, welche Bilder wir aufnehmen? Können wir dem Unschönen ausweichen, können wir immer nur das Wohltuende vom Wegesrand pflücken, so wie ich es beim Fotografieren sonst gern mache? Während doch immer das gesamte Spektrum an der Strecke liegt?
Ja, die unansehnlichen, gar hässlichen Ansichten sind da, ob ich will oder nicht. Heute landen auch sie in der Kamera, bunt untergemischt unter Fotogeneres, alles in allem ein wahrer Auszug aus der Wirklichkeit. Nichts ist geschönt, nichts ausgeblendet, ich verzerre nicht durch Auswahl und Verwerfen. Das was ist, das ist. Ich lebe darin.
Und doch: eine Stunde ist nicht eine Stunde, ein Kilometer nicht ein Kilometer, ein Bild nicht ein Bild. Meinen Kopf kann ich immer noch wenden wie ich möchte, selbst im Nachhinein. Kann die unliebsameren Blicke kaum mehr beachten, kann meinen Fokus auf das Labende richten, kann es vermischen mit stärkenden inneren Bildern, derer ich genug in mir trage und von denen ich heute emsig weitere einsammle. Das Panorama, welches ich von meiner Kurzreise mitbringe, wird von mir geformt und gefärbt, und nicht von den Bits und Bytes auf der Speicherkarte. Von einer statistischen Verteilung des Guten und des Unguten am Wegesrand möchte ich mir nicht vorschreiben lassen, was ich im Innern letztlich sehe …

Was bedeutet das überhaupt: das Gute, das Ungute, das Schöne, das Lichte? Sind dies nicht selbsterschaffene Kategorien? Ist ein Bild per se wohltuend, oder mache ich es mir zu einem solchen? Kommt das Licht der Dinge von ihrem äußeren Anblick her? Oder kann ich es ein Stück weit selbst erschaffen?
Wenn ich doch versuchte, auch in einem jeden Unbedeutenden – und sogar im vemeintlich Hässlichen – etwas aufzuspüren, das mich stärken könnte? Schließlich fügt sich jede Wegstrecke aus letztlich unbedeutenden Orten zusammen. Weder für mich noch für Euch als von außen Betrachtende ist es vermutlich von Belang, ob ich auf meiner Kurzreise am Rhein war (war ich nicht) oder am Neckar (war ich). Beide Flüsse sind hier weder zu sehen noch sind sie nicht zu sehen. Möglicherweise spielen sie gar keine Rolle.

Was für eine Entlastung, wenn ich nicht mehr Bedeutsames auszuwählen versuche, wenn ich nicht werte, nicht sortiere zwischen Leuchtturmanblicken und Grauackertönen, zwischen erstrebenswerten Reisezielen und dem ermüdenden immer ein wenig monotonen Tritt des Alltags.
Eine Entlastung für mich, da ich nicht allezeit nach tragenden und stärkenden Momenten auf meiner Lebenswegstrecke suchen muss, während ich gleichzeitig vor anderen Etappen die Augen verschließe oder gar fliehe.
Eine Entlastung auch für die Dinge und ihr äußeres Kleid, wenn sie nicht mehr die Bürde der Verantwortung dafür tragen, mir meine Tage zu retten, wenn auf ihnen nicht mehr das Gewicht der Sinngebung für andere Zeiten liegt.

Nun also: Was hat sich mir unterwegs gezeigt? Dies alles, dies viele, was folgt …
(Unten in groß ist jeweils das Bild in Fahrtrichtung zu sehen. Oben etwas kleiner das Rückwärtsbild, daneben die Bilder in seitlicher Richtung.)

Kilometer 5:

 

Kilometer 10:

 

Kilometer 15:

 

Kilometer 20:

 

Kilometer 25:

 

Kilometer 30:

 

KIlometer 35:

 

Kilometer 40:

 

Kilometer 45:

 

Kilometer 50:

 

Kilometer 55:

 

Kilometer 60:

 

Kilometer 65:

 

Kilometer 70:

 

Kilometer 75:

 

Kilometer 80:

 

Kilometer 85:

 

Kilometer 90:

 

Kilometer 95:

 

Kilometer 100:

 

Vielleicht sollte ich öfter so wahl- und entscheidungslos durch die Linse schauen?
Nun, „schöne“ Bilder werde ich natürlich weiterhin suchen und zeigen, mit aller Freude und Leichtigkeit, welche die Hingabe an ästhetische Wunder schenkt. Aber ich suche, lebe und fotografiere schon recht idyllezentriert.
Vielleicht gibt es einen Mittelweg. Beim Fotografieren, und im Leben.

19 Kommentare

    1. Dass Du auf diesem Weg schon ein ganzes Stück weiter bist, das glaube ich sofort – nein, das spürte und spüre ich. Und es tut mir gut, solche Menschen um mich zu haben. Sei von Herzen gegrüßt, Du Liebe.

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  1. Liebe Frau Rebis,
    Da hast du wieder einen Artikel mit Tiefgang geschrieben und so vieles davon resoniert in mir, als erstes dachte ich: das Heilige und das Profane, die Schönheit und das Hässliche, das Gute und das Böse … sind immer nur die Kehrseiten einer Medaille, ihre Trennung ist eine haarfeine Grenze, wie eben auch der Wahnsinn und die Genialität (ja, es lässt sich unendlich fortsetzen). Auf diesem schmalen Grad zu balancieren ist eine hohe Kunst, aber vielleicht gilt es wirklich diese zu erlernen?!
    Der Mittelweg erscheint uns immer wieder als langweilig, wieso eigentlich? Ist es nicht genau der, der uns Ruhe und Frieden schenkt, sowie das Wissen, dass immer alles da ist, so wie du es ja selbst schreibst?!
    Die Dinge und das Leben als das zu sehen, was sie sind, das ist für mich der mittlere Weg. Ich schrieb es schon, ich tanze gerade wieder mit dem Satz: Es gibt keinen Grund zur Euphorie und keinen für die Depression … und wiederhole mich, es ist eine hohe Kunst, ich übe weiter.
    Danke dir für dein Sein, deine Gedanken und alle diese wunderbaren Bilder, die den mittleren Weg und sein drumrum so wunderbar spiegeln.
    Herzliche Grüße und dir Wohlsein und Freude,
    Ulli

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    1. Liebe Ulli,
      und nun schwingt in mir weiter, was Du hier fortführst – ein stetes Tasten und behutsames Schrittesetzen auf dem noch erst zu findenden Mittenpfad, und vielleicht, ja vielleicht wird dieser schmale Grat ja eines Lebenstages breiter, weiter, einfacher zu finden, weil wir uns auf ihn hinaufgeübt haben, sozusagen?
      Es ist ja wirklich so: Ich betrachte die Bilder meiner Stationen hier von Tag zu Tag anders, ich sehe immer mehr. Und vielleicht reise ich mal wieder zu dem einen oder anderen der unbedeutenden Fleckchen – sie liegen ja alle um die Ecke – und versenke mich hinein. Was es da wohl noch zu entdecken gibt?
      Herzensgrüße in das anbrechende Wochenende hinein
      von Frau Rebis

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    1. Stimmt’s, man möchte ständig die einen Bilder toll finden und die anderen eben nicht so, und dann denkt und sagt sich eine Wertung fast von allein … oder? So geht es mir. Und vielleicht stehen wir uns damit selbst im Wege … bei mir jedenfalls ist es so …
      Liebste Grüße zu Dir
      Frau Rebis

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  2. Zuallererst einmal: 100 Kilometer! WOW, und Gratulation! Davon kann ich nur traeumen. Und mein Allerwertester bekommt schon beim Lesen Albtraeume. :D
    Ich finde es ein wirklich interessantes Kopnzept, wie auch schon bei Irgendlink – aber es ist nicht Meines. Wenn ich unterwegs bin – sei es mit dem Rad, sei es auch so auf Reisen [wie zuletzt auf unserem SolarEclipseRoadTrip, den ich gerade in meinem Blog verarbeite] – dann moechte ich das Schoene sehen und festhalten, ich moechte geniessen, und abschalten von all‘ dem Unschoenen und Bedrueckenden, von dem der Alltag doch so voll ist. Aber Deinen Artikel hier und die Bilder habe ich dennoch mit viel Interesse gelesen: danke fuer’s Augenoeffnen auich fuer Anderes als ich es zu beobachten pflege. Ich finde es grossartig, wie einem das Bloggen – genauer gesagt, das Lesen anderen Blogs – die Augen oeffnen und den Horizont erweitern kann.
    Liebe Gruesse,
    Pit

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    1. Ja, lieber Pit, dieses andere Schauen, das Suchen nach den nährenden Bildern, das tue ich ja auch, mehr als genug. Solche Fahrten wird es auch wieder geben.
      Letztlich war dieses Reiseexperiment auch ein wenig anstrengend, weil strenge Formen immer einengen. Zum Ende des Tages hin war ich so tiefenentspannt, dass ich immer fast die 5-km-Marken übersehen habe, worauf ich wieder ständig nen Schreck bekam:)))
      Es war mir dennoch interessant, auf diese Weise mal einen Spiegel für mich und mein Gehen im Alltag (der gerade wieder fest klammert) zu bekommen, um Wege zum Herauslösen zu suchen.
      Hab es gut dort in der Ferne, herzlichen Gruß
      Frau Rebis

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  3. Sehr schön (Kilometer 85 ist mein Favorit). Vielleicht muss ich mir auch einmal solche „Gesetze“ ausdenken… dann mache ich auch einmal die 100 wieder voll. Obwohl, ich glaube, ich werde lieber weiter den Mittelweg gehen… schauen, fotografieren und radeln. Das allein ist doch genial! Die Monotonie der Bewegung und des Schauens schafft dann auch Balance, ist das vielleicht ein Mittelweg?
    Liebe Grüße, Susanne

    Gefällt 2 Personen

    1. Liebe Susanne,
      das mit km 85 hätte ich bei Dir auch vermutet:) Obwohl es in der Realiät dort schon recht finster war, was die Bilder nicht unbedingt zeigen, die Kamera steuert ja dagegen.
      Und nein, ich habe die 100 ja nicht wegen der Bilder gemacht, sondern weil es sich einfach so fuhr …
      Bestimmt werde ich nun nicht immer auf diese Weise unterwegs sein, das strengt an und engt ein. Aber es hat mir wieder ein wenig was über mich gezeigt. Nicht nur über die Alltagswege, sogar über mein sonstiges Radreisen. Denn oft bin ich dabei zu arg auf der Suche nach schönen Bildern, und gräme mich, wenn ich an einem vorbeigerauscht bin, oder wenn gerade die Sonne weggegangen ist, oder wenn die Pflanzen anders wachsen als ich es jetzt gern hätte:) Tja, vielleicht kann ich diese Gelassenheit des unwertenden Betrachtens einfach noch nicht so richtig … ich übe weiter.
      Sei gegrüßt und umarmt
      Frau Rebis

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    1. Liebe coffeefee,
      die Augen verraten uns, wonach wir immer wieder suchen, gell? Mir geht es nicht anders. Ich sollte mich wohl öfter mal auf diese Weise beobachten – die Wertungsfalle führt mich immer wieder in Ungutes hinein, in Schmerzendes, was sich vielleicht aufheben ließe …
      Sei lieb gegrüßt zu Deinem Reise- (und Ferien?)Ende hin
      Frau Rebis

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    1. Liebe Gabi,
      tatsächlich war km 30 der einzige Punkt der Strecke, auf dem eine einladende Bank stand – man sieht sie auf dem einen Bild -, ich nutzte sie zum Verweilen. Ein Ort, der dazu einlädt, nebendran ein Flussärmchen, wilde Wiesen, und das Licht an jenem Morgen …
      Herzlichen Gruß
      Frau Rebis

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