Die Menschen am Fuße der Berge #1

Ob sie schon immer in diesem Ort gelebt hat, weiß ich  nicht. Erzählt hat sie uns aus ihrem Leben nur von jenem Tag an, als ihr Mann verunglückte und sie plötzlich mit drei kleinen Kindern allein dastand. Diese mussten ernährt werden, und so begann sie zu tun, was sie am besten konnte: zu kochen. Zunächst in den Küchen fremder Gasthäuser. Später, als sie ihre Kraft einzuschätzen gelernt hatte, im eigenen Haus. „Da Anita“ stand von da ab über der Tür.

Als wir sie kennenlernten, war das Gasthaus schon gut besucht. Es hatte sich im Laufe der Jahre herumgesprochen, was und wer sich hinter der düsteren Fassade in jener Seitengasse verbirgt. Auf den schlichten Holzbänken war zuweilen kaum ein Platz zu finden; manchmal verließen wir die Stube notgedrungen wieder, um anderswo zu Abend zu essen.

Oft aber saßen wir dort. Und Anita kochte. Sie kochte mit Liebe und mit Schürze. Das Bild, wie sie aus der Küche tritt, immer in ihrer vom Kochen gezeichneten Schürze, an diesem Tisch ein Ciao in die Runde winkt, sich an jenem kurz niedersetzt, zwischendurch, die Arme in die Hüften gestemmt, in der Ecke der Wirtsstube verharrt und beobachtet, was ihre Gäste brauchen. Manchen gibt sie ihr Lächeln, den meisten gleich eine Umarmung mit Küsschen-rechts-Küsschen-links, und wer sie offen anschaut, mit dem beginnt sie ein Gespräch über diese und jene Lebensfrage. Wenn ein Kind seine Eltern nicht in Ruhe essen lässt, nimmt sie es auf den Schoß, spielt, lacht, singt, ruft mit ihm in unsere Richtung „Ciao“, bis wir zu Ende gegessen haben. Ja, wir. Unser Sohn saß oft bei Anita auf dem Schoß. Kein Jahr, dass sie ihn nicht zu Beginn unseres Urlaubs mit fliegender Begrüßung im Kreis gewirbelt und am Ende der Woche mit fester Umarmung für ein weiteres Jahr verabschiedet hätte.
Ihre eigenen Kinder waren damals schon groß und arbeiteten mit.

Zeitsprung. Jahre später.
„Da Anita“ ist aus der engen verwinkelten Gasse in ein weites Haus gezogen. Ein eigens neu gebautes, mit Bergblick, mit mehr Raum, mit einer ganzen Flotte an hellen Tischen, und nunmehr mit Gästezimmern, wenn man die Treppe hinaufgeht.
Die aus alten Holzbalken herausgehobelte Modernität will sich für mich bis heute nicht mit dem vertrauten Namen verbinden. Wie ein schlecht angepasster Anzug, denke ich jedes Mal, umgibt das neue Haus die Seele des Ortes, Anita eben.

Anita. Lange schon steht sie nicht mehr allein in der Küche. Die Tischanzahl lässt auf eine ganze Riege von Köchinnen schließen. Die Drehtür zur Küche kommt kaum zur Ruhe, und um die Tische schwirrt eine Reihe unbekannter Gesichter.
Nie aber dauert es lange, bis uns eines der Anita-Kinder erkennt, umarmt und – wenn wir etwa gerade aus einem kalten Schneesturm hereinflüchten – mit Caffè corretto und Strudel di mele aufs Haus aufwärmen lässt. Und immer kommt Anita aus der Küche uns zu begrüßen.
Es ist ja doch noch derselbe Ort. Dieselbe Herzwärme, mit derselben Schürze bekleidet. Die Jahre scheinen spurlos an den strahlenden Augen und dem flinken Schritt vorbeigegangen zu sein. Küsschen-rechts-Küsschen-links, vor allem für den Sohn, zu dem sie sich längst auf Zehenspitzen recken muss. Manchmal reicht die Zeit, sich kurz niederzusetzen. Sie plaudert mit uns, wir lachen zusammen, sie fragt nach unseren Lebensdingen, manchmal lässt sie sich zu einem Grappa einladen. Auf sich anstoßen zu lassen jedoch, das mag sie nicht.
Irgendwann eilt sie zurück in die Küche. Oder zu anderen Gästen.

Und wir reisen ab, um nächstes Jahr wieder bei ihr einzukehren.

Wie viele Menschen hier im Laufe der Jahrzehnte wohl Wärme und Nahrung gefunden haben. Wie viele sich an ihren Tischen heimisch gefühlt haben und noch fühlen.
Wie viel Liebe ein einzelner Mensch in die Welt hinausschenken kann.

12 Kommentare

    1. Bestimmt kennst Du auch eine … es gibt viele solch wohltuende Menschen. Manchmal übersehe ich sie, weil ich zu beschäftigt bin, oder weil ich mich an sie gewöhnt habe. Vielleicht ist es immer auch eine Frage des Blicks?

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    1. Ich denk grad: Vielleicht sind wir alle ein bisschen Anitas in unserer Umgebung und dass es nicht draufankommt WIE VIELE wir bekochen, sondern DASS … und dass man viel mehr solche Texte lesen und schreiben sollte. Weil sie Mut machen!

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          1. Ja, ich finde das eine schöne Idee, viel mehr über solche Menschen zu teilen. Eben weil es gut tut. Und weil es gar nicht so wenige gibt. Weil vielleicht jeder so ein Mensch ist, für irgendwen. Stimmt, es kommt gar nicht darauf an, für wie viele man kocht. Und auch nicht, ob es das Kochen ist oder ein anderes Tun, oder am Ende eigentlich nur das Sein.

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