#ostwärts-1 – Ein Traum, ein Ziel, ein Plan

Einige Jahre ist es her, ich saß sommers auf dem Rad wie so oft, saß lange auf dem Rad damals, einige Wochen waren es, als mich plötzlich der Gedanke durchfuhr: Dieser Zustand könnte ruhig länger anhalten, ein Jahr vielleicht, dieser Zustand von Fahren und Verweilen, Treten und Sein. Ein Jahr auf dem Rad, wie das wohl wäre? Wohin ich wohl wollte? Wohin ich käme?
Wohin ich wollte? Die Antwort kam mir prompt: In den Osten, in den weiten, sehr weiten Osten. Nach Russland nämlich, in das Land meines Jahres 89/90. Dorthin sollte es gehen. Erstmals blitzte die Idee eines Sabbatjahres auf …

So begann es vor vielen Jahren. Der Traum reifte allmählich zum Ziel. Sabbatjahr geht erst, wenn die Tochter 18 ist, das war klar. Vorher aber kann ich den Osten „anfahren“, Sommer für Sommer, immer ein Stück weiter. Und deswegen wurde die Route im Kopf länger und länger. Hatte ich anfangs noch das europäische Russland vor Augen, stand eines Tages – genauer: eines Nachts war es – der Baikalsee vor meinem inneren Auge. Der Baikal, dieser tiefe See im fernen Sibirien, an dessen Ufern wir damals, am Ende meines Moskau-Jahres, für nur wenige Tage sein konnten. Viel zu kurz, viel zu flüchtig. — Nun ist er mein Ziel.
Was ich mir noch alles hineinträume in diese ferne russische Welt und meine Wege dorthin, das werde ich im Laufe der Reise erfahren. Und vielleicht auch erzählen. Im Moment wirkt es mir wie ein Paradies. Ein Magnet, der mit jedem Reisebericht, mit jeder Reportage, mit jeder Zeile, die ich über Russland erlese, stärker wird. Als wäre dort mein Land, mein Ort, meine Heimat.
Verrückt, ich weiß. Der See ist fern, das Sabbatjahr auch, ich nicht mehr jung, man weiß nie, was noch kommt und was gehen wird, gesundheitlich und überhaupt. Und doch: Der Baikalsee.
Aus dem Ziel erwuchs nach und nach eine Route, eine zeitliche Vorstellung, ein Plan. Ein paar Sommer bis zum Sabbatjahr sind es noch, man kann stückeln, sich jedes Jahr ein wenig mehr nähern – ins europäische Russland, Petersburg und Moskau natürlich, dann zum Ural, erste Wege nach Sibirien. Jahr für Jahr ein Stück.So dass ich dann – im Sommer, in welchem das Radreisejahr beginnt – schon nahe genug bin, um den See vor Wintereinbruch zu erreichen. Dort dann überwintern und über irgendeine südlichere Route zurück.

So weit, so sehr lebt es in meinem Kopf. Und dieses Jahr sollte der Anfang meines #ostwärts-Projektes sein. (Genau genommen hat es ja vor x Jahren begonnen, unbemerkt noch: Wenn der Weg von meinem Zuhause nach Berlin der eigentliche Anfang war, dann bin ich ihn 2016 und 2017 schon gefahren, je einmal mit jedem Kind. Was für ein schöner Beginn einer langen Reise.)
Dieses Jahr also sollte es in Berlin losgehen. Oder weitergehen. Von Berlin aus mit wenigen deutschen Kilometern nach Polen, querdurch, dann Kaliningrad – Litauen – Lettland – Estland. Viel mehr passt nicht in einen Sommer. So war also der Plan, wie er sich noch im Winter geformt hatte.
Was dann geschah, wissen wir. Schnell wurde klar: Kaliningrad, russisches Gebiet, lässt sich dieses Jahr nicht bereisen. Dann sah es – im April – so aus, als wäre gar kein Ausland möglich. Ich hatte jegliche Reise abgeschrieben. Im Mai/Juni jedoch kehrte mit den sinkenden Corona-Zahlen meine Zuversicht zurück: Vielleicht lässt sich doch radreisen, wenn ich nur das Kaliningrader Gebiet umfahre. Ansonsten der Europäische Radwanderweg R1 als Leitroute, ich bestellte mutig das Kartenmaterial und war ebenso mutig im Vorfreuen. Immer mehr. Nach diesem Jahr, diesem Schuljahr, dieser erschöpfenden Zeit, die an jegliche Grenzen gegangen war, wurde mir mein Plan zum Refugium.
Nun, und jetzt kamen die Zahlen zurück, noch bevor bei uns die Ferien begonnen hatten. Tag für Tag starrte ich in die Reiseinformationen der App des Auswärtigen Amtes, der Trend wurde klar. In Polen wächst die Infektionsrate wieder, noch früher als bei uns, und das Baltikum hat strenge Einreiseregeln. Es war eine Sache von Tagen, ich konnte es vorab hochrechnen, dass Litauen Menschen, die durch Polen anreisen, unter Quarantäne stellen wird. (Und genau seit gestern ist das tatsächlich so.)

Da saß ich also in Berlin, auf gepacktem Rad, das mich eigentlich via Küstrin, Poznan und Gdansk ins Baltikum bringen sollte, und schon vor der Abreise war klar, dass diese Reise an der polnisch-litauischen Grenze enden wird. Was jetzt?
Nur durch Polen, dort umhertreideln und verweilen? – Das Land kenne ich schon, von früher, es hat wenig Fremdheitsnimbus für mich, es lockt mich für diesen Sommer nicht, denn es sollte nur Durchgangsort sein … ich konnte mir dies nicht vorstellen.
In Deutschland bleiben? Irgendetwas ganz anderes machen? – Nein, meine #ostwärts-Sehnsucht nagt zu sehr.
Ein Ausweg blieb: Die Fähren ins Baltikum. Was eigentlich nur für den Rückweg dienen sollte, wird jetzt vielleicht zweimaliges Transportmittel – wer weiß, so genau kann man das in diesen Tagen ja nicht sagen.

Und so sitze ich nun auf einer solchen Fähre. Knapp habe ich sie in Kiel erreicht, nach holpriger Bahnfahrt aus Berlin, Ticket am Hafen gekauft, ein wenig umgepackt, um für die 20 Stunden nicht alle Packtaschen mit in den Ruheraum zu nehmen, vom Shuttlebus auf das Autodeck navigiert worden, Rad auf dem Autodeck abgestellt … und dann ging es los.
Dann ging es vor allem im Innern los. In dem Moment, als Kiel noch zu meinen Füßen lag, die Sonne sich daran machte, hinterm Horizont zu verschwinden, das Schiff ächzte und tutete und zu rauchen begann und zu vibrieren, als all die mitfahrenden Menschen aufgeregt das Ablegemanöver bestaunten oder es einfach nur stumpf beguckten, ich erste Seereisefotos in die Twitterwelt verschickte, von dort und woanders Mitfreudewünsche für meine baltischen Wege eintrafen, als ringsum die Dichte der russischen Stimmen zunahm, als also meine Reise zwar umgeplant, aber nun doch zweifellos direkt vor mir lag, da kam das Reisekribbeln zu mir. Noch wenige Stunden zuvor war es so fern wie nur irgendwas gewesen.

Nun also: Ich reise. Sehe, was sich vor mir öffnet. Die weiße unbefleckte Landkarte der baltischen Länder, über die ich so wenig weiß. Schon die Menschen auf dem Schiff, etliche sind wohl Litauer*innen, deren Sprache ich nicht ansatzweise verstehe. Das sicherlich fremdartige Straßenbild dort, die Verhaltenscodizes, die mir nicht vertraut sind, mein wohl unweigerlich immer suchender Blick nach dem Bekannten – dem Russischen? dem Sowjetischen? werde ich etwas (wieder)erkennen? – und meine unglaubliche Neugierde auf das Unbekannte. Ich freue mich!
Das, was nicht geht, was für dieses Jahr verschlossen bleiben wird – die Wege durch Polen und Russland – tritt in den Hintergrund. Sie lassen sich ja nachholen. Oder auch nicht: Jetzt erstmal bin ich anders unterwegs als ich dachte, aber doch ist es „meine“ Reise.

Seltsam, wie einem Planungen im Weg stehen können. Wie sie mich die letzten Tage in Berlin irritiert, wie sie mir die dortige und die kommende Zeit fast schon zerstört haben. Wie ich starr war in dem, was ich doch so lange für mich als Plan festgezurrt hatte, starr und gefangen und unfrei im Neuentscheiden. Mich hat es erschreckt. Mein Ich und meine Pläne als Konstrukt, dem ich mich selbst ausliefere. Warum habe ich mir den Ausweg nicht früher gestattet? Warum kein flexibles Abweichen zugelassen? Warum mich nicht eher öffnen können für das Ungeplante? Warum habe ich die jetzigen Pläne noch so lange als Ersatzreise empfunden – eigentlich ja, bis ich auf’s Schiff stieg?
Meine Pläne und Prinzipien und Routinen und Rituale – es gibt so vieles im Alltag, wo ich unflexibel, fast schon verbohrt und verbissen bin. War das schon immer so? Sind mir Pläne und Prinzipien ein Gerüst, ein Halt, wenn die Kraft sonst nicht reicht?
Weil jegliches Umentscheiden, weil jedwede kleine alltägliche Entscheidung letztlich Raum fordert, ist es erleichternd, viele Abläufe festgezurrt zu haben. Soweit, so richtig – vermutlich für viele Menschen. Der Sinn der Rituale. Doch andersherum gesehen ist jedes Ritual ein bequemes Eingerichtetsein, oft auch fehlende Offenheit. Oder nicht?
Und lasse ich die Dinge offen, verliere ich möglicherweise die Kontrolle über sie.

Und nun stehe ich am Beginn einer wochenlangen Reise, von der ich keinen Zielort, keine Wegführung, keine Transportmittel für den Rückweg kenne. Ich weiß nur, dass am 14. September die Schule wieder beginnt. Und bis dahin gibt es in meinem Gepäck einen Reiseführer, eine Landkarte und einen Radwanderführer der baltischen Länder. Mehr nicht.
Ich bin gespannt, sehr …

Die Fähre läuft ein. Vorher schon kündigt sich Litauen mittels Zeitverschiebung auf dem Handy an.
Ein Loswuseln an Bord, alle greifen ihre unzähligen Gepäckstücke, autofahrende Menschen drängeln unsinnigerweise herum – sie können ihr Auto eh nicht fliegend aus dem Bauch des Schiffes befreien. Lediglich wir vier Radfahrenden, wir können uns durchschlängeln – und tun dies auch. Sind mit die ersten, die das Schiff verlassen.
Ein Hafen, ein kaum zu findender Ausgang, eine Grenzkontrolle (ungwohnt für uns Schengen-Verwöhnte) empfängt uns. Die Vororte eine belebten Stadt, Radwegeslalom, wilder Verkehr, Hupen, Rasereien, vertraute sowjetische Satellitenstadtbauten. Also doch: schon hier Vertrautheit – und warum ich diese schön finde, diese alten, abgelebten Gebäudemonster, dies wird ein andermal zu ergründen sein.
Ich entscheide mich dafür, einfach durchzufahren, alle Wegränder aufzusaugen, nichts zu fotografieren, einfach auf dem Weg zu sein, wie er zufällig an mir vorbeikommt. Morgen werde ich – der Lage der Campingplätze geschuldet – hier wieder vorbeikommen, da nehme ich mir Zeit für die Stadt.
Jetzt bin ich nur auf dem Weg zum Zeltplatz im Norden der Stadt …
14 Fahrradkilometer später baue ich – nach Anmeldeprozedere auf Russisch: wie sehr ich das genieße:) – in einem Kiefernwäldchen mein Zelt auf. Die jungen Radreise-Zeltnachbarn sind alles Hiesige, man radreist hier offenbar viel und gern. Sie erzählen mir, dass eigentlich nur die Alten Russisch sprechen (und staunen, dass ich dies auf der Fähre, in der Stadt und hier auf dem Platz schon ganz anders erlebt habe). Sie lächeln ganz bescheiden, als ich mich so offensichtlich aus jeder Pore freue, hier zu sein. Der Weg zum Strand sei kurz, sagen sie. Ich gehe hin. Die Sonne ist schon untergegangen und hallt noch rot nach, ich kaufe mir ein Bier, ein hiesiges natürlich, sitze und schaue. Da ist das Meer. Zunächst einmal ist da viel Meer. Und meine Fähre macht sich in der Ferne gerade auf den Rückweg.

Nun denn – auf geht’s: Zur südlichen Grenze von Litauen mit Russland. Von dort allmählich zur nördlichen Grenze von Estland mit Russland. Das soll meine erste Orientierung für die Reisewege sein. Aber wer weiß, wohin es mich in den nächsten Tagen und Wochen wirklich bringen wird.

15 Kommentare

  1. Ein #UmsLand fast gar! Ich freu mich aufs Mitradeln. Eine Gegend, die mir fremd ist und mich songar nicht lockt. Vielleicht haben wir alle solche unerklärlichen Heimaten/Heimatregionen in uns?

    Möge es eine rundum gute Reise werden!

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    1. Oft ist das sicher so, wir haben Heimaten. Aber manche kennen wir einfach auch noch nicht, und woher sollen wir das dann wissen. – Ich war ja auch nie auf die Idee gekommen, in diese Ecke Europas zu fahren. Sie lag halt jetzt auf dem Weg. Ich finde und sehe hier – zu viel vielleicht? – das Russische. Und Du würdest hier vermutlich das Schwedische/Nordische finden. Es ist jedenfalls von allen Regionen, die ich erlebt habe, vermutlich die „Schwedischste“ – von Landschaft und Atmosphäre her.
      Du weißt also vermutlich nur nicht – und ich auch nicht – was noch alles Heimaten für Dich, für mich sind. Es sind ja immer Zufälle, die uns irgendwo hinbringen, und woanders hin eben nicht.

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      1. Das ist ein sehr spannender Gedanke. Und ja, es ist wohl weniger das Land/die Region (bei dir Russland, bei mir Skandinavien) denn das, was gewisse Landschaften und/oder gewisse Menschengruppen-Verhaltensweisen bei uns auslösen, es ist wohl noch etwas Tieferliegendes, was Heimatgefühle auslöst. Und vielleicht gibt es dazu mehr Orte als wir ahnen?!

        (Dieses „Nach-Hause-Kommen“-Gefühl von Vertrautheit hatte ich aber bisher wirklich vor allem in Schweden. Noch nicht mal in Südfrankreich, das ich doch auch so liebe. Ich suche in allen Orten danach, vielleicht?)

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  2. Du Liebe, ich sitze hier und staune über Deine Bereitschaft, Dich auf so viele Unabwägbarkeiten einzulassen, und ich freue mich von Herzen für Dich, daß Du den Mut fandest, Dich auf dieses Abenteuer einzulassen. Ich freue mich mit Dir! <333

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  3. Fasziniert habe ich mitgelesen. Dieser Weg nach Osten, grad auch mit der Fähre von Kiel aus, oft von mir erträumt, aber nie auch nur ansatzweise realisiert. Und nun machst du es, per Fahrrad. Es ist so spannend für mich, mitzufahren, mitzuschauen. Danke fürs Veröffentlichen!

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  4. Schoen, einmal wieder von Dir zu lesen. Ich freue mich, dass es Dir gut geht. Fuer Deine – ganz besonders in diesen Zeiten mutige – Reise wuensche ich Dir alles Gute und viele schoene Erlebnisse. Ich halte Dir die Daumen, dass Du alles gesund ueberstehst und heil zurueck kommst.

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    1. Danke!
      (Und naja, ob es in diesen Zeiten mutiger ist? Wegen unvermittelt geschlossener Grenzen vielleicht – ich hab die ReiseApp des Auswärtigen Amtes täglich im Blick. Ansonsten aber ist es hier weit leerer und infektiosnärmer als auf jeglichhen deutschen Wegen in meiner und anderen Landesecken. Insofern bin ich hier gut unterwegs …)

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      1. Da gebe ich Dir allerdings Recht: Du wirst auf Deiner Reise (weit) weniger einer Infektionsgefahr ausgesetzt sein als in Deutschland, oder als wir hier. Ehe wir uns wieder auf eine Reise trauen wird wohl noch viel Zeit vergehen. Wir hatten zwar mal angedacht, uns ein Wohnmobil zu mieten, weil wir der Meinung sind, damit koenne man (zu nahe) Kontakte besser vermeiden als bei Unterkunft in Motels oder B&Bs, aber selbst die Plaene haben wir fuer’s Erste ad acta gelegt.
        Dir wuensche ich eine in allesn Breichen gute Reise,
        Pit

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  5. Ich freue mich sehr für Sie, dass diese Reise möglich geworden ist, wie immer und wo immer hin sie tatsächlich am Ende verlaufen wird. Freue mich sehr, dass Sie darüber schreiben und auch ich so zumindest in Gedanken mitreisen darf. Bleiben Sie gesund und unverletzt!

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  6. Du Liebe, mich beeindruckt deine Flexibilität, das finde ich nämlich nicht mehr bei Vielen- geht ein Plan nicht auf, wird resigniert, geschimpft und geklagt. Um dein Ostabenteuer beneide ich dich ganz still und heimlich, da weint meine russische Seele, die doch einmal so, so gerne all das selbst riechen, schmecken und hören würde, so tröste ich mich mit russischer Literatur. Wohl weiß ich, dass ich aufgeschmissen wäre, nicht ein Wort kann ich sprechen, geschweige denn lesen, da bräuchte ich einen Menschen wie dich an meiner Seite, aber dann ist es eben auch nicht mehr alleine reisen und das mache ich eben genauso gerne wie du auch.
    Ich freue mich, dass ich gerade am heimischen Schreibtisch sitze und etwas mehr von deiner Reise mitschneiden kann. Es gab schon gestern viel nachzulesen und anzuschauen auf twitter, heute hier- danke, dass du all das mit uns teilst.
    Radel gut und fühle dich von Herzen umamrmt und begleitet,
    deine Ulli

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