Cello #4 – Vom Klang

Das habe ich heute gebraucht, genau das.
Und ich werde es weiterhin brauchen, werde es weiterhin suchen. Auch wenn morgen vielleicht alles wieder ganz anders ist, wenn es wieder in weite Ferne gerückt sein sollte.
Heute habe ich es erfahren. Heute, als ich nach Tagen der grauen Traurigkeit und verzagten Mutlosigkeit mich dann doch ans Cello setzte. Nicht vorfreudig, nicht erwartend, mit entwöhnten Fingern, einfach nur zu meiner nach der Reise wieder aufzunehmenden Übezeit.

Ich setze den Bogen an – und plötzlich ist es da. Ein bis in die Brust vibrierender Klang. Laut, aber nicht einfach laut. Ein klares, ungewohntes Tönen leuchtet schon im Stimmton. Dann in der ersten Tonleiter. In der ersten Etüde, im ersten Übungsstück, in allem.
Das sind ganz andere Töne als die, die ich zurückgelassen hatte. Fester zwischen meinen Händen eingespannt, aufgehängt in den rechten, bogenführenden Fingern, vibrierend im linken, greifenden Finger bis hinein in die Hand, ja in den Unterarm. Gestaltet von beiden Händen, und fest mit mir verbunden.
Ein heller Paukenschlag erklingt, von meinen ausgeruhten Händen und Armen ausgehend. Als hätten diese eine Woche lang Anlauf genommen.

Was an Bewegungsabläufen für einen solchen Klang nötig ist, dies bekomme ich nun seit fast einem Jahr Cellounterricht Woche für Woche gesagt und gezeigt, dies ertaste ich seither Tag für Tag.
Der rechte Arm muss sein Gewicht auf dem Bogen ablegen. Ohne jedoch Muskelkraft einzusetzen, die Schwerkraft reicht. Der rechte Zeigefinger muss das Gewicht auf den Bogen übertragen, mal mehr, mal weniger, je nach Lage, Tempo, Dynamik, Rhythmik und Klang. All die rechten Finger müssen in einem steten Balanceakt zwischen Anspannung und Entspannung in einem jeden Moment den Kontakt zur Saite herstellen, auch wenn diese fast einen halben Meter entfernt ist (und deswegen die physikalischen Gesetze der Hebelwirkung im Weg sind). Das rechte Handgelenk  muss wie auch Ellbogen und Schulter locker sein, jedoch ohne die Spannung in den Fingern aus den Augen zu lassen.
Die gesamte linke Hand muss solidarisch zusammenarbeiten, muss all ihr Vermögen zusammennehmen, um auch noch den kleinsten, den schwächsten, den unflinkesten Finger zu stützen, wenn dieser – stellvertretend – die schwere Saite mit festem Druck auf das Griffbrett legt. Der eine Finger muss stets von den Nachbarfingern begleitet werden, welche in einer schier nicht zu vereinbarenden Vorstellung durch ihre Beweglichkeit die Statik des tongreifenden Fingers erst hervorbringen.
Der gesamte linke Arm muss aus der Schulter heraus alles geben, damit ein winziger Finger auf dem Griffbrett einen Ton vorbereitet. Der gesamte rechte Arm muss in all seinen Gelenken – und derer sind viele – zusammenspielen, damit Kraft, Bewegung und Fluss stimmig werden und Klang hervorbringen können. Der gesamte Körper umarmt das Instrument und singt im Ganzen, so dass Arme und Hände ihrem Werk nachkommen können.

Müssen müssen müssen müssen. So viele Müssen’s habe ich im Laufe der Monate erfahren, gezeigt und erklärt bekommen, selbst erfühlt und ertastet. Und nie hatte ich die geringste Vorstellung davon, wie es gelingen kann, dass das alles zusammenspielt.

Und heute war jedes Müssen aufgehoben. Heute war es einfach so da. Für kurz nur, aber es war. Meine Finger und mein Körper fühlen sich noch ganz benommen von dieser Erfahrung.

„Anderthalb Jahre braucht man, bis man auf dem Cello einen Ton hervorbringen kann“, sagte mal jemand, als ich noch nicht im Traum daran dachte, dass ich dieses Instrument eines Tages spielen werde. Damals verstand ich nicht. Heute beginne ich zu erahnen. Ob anderthalb Jahre oder drei, ob ein halbes oder zehn Jahre – es ist ein langer, mühsamer Weg, den eigenen Ton auf diesem Instrument zum Klingen zu bringen.
Bisher vernahm ich oft nur Unsauberkeit, Quietschen, Scheppern, die gesamte Palette des Unschönen. Oder es geschah alles in großer Flachheit, ohne dass irgendeine Schwingung in die Tiefe drang. Oder ich knirschte mit der Unvollkommenheit um die Wette.
Heute nun eine lichte Ahnung.

Und sogleich zog es sich wieder zurück. Denn natürlich wurde der Ton im Laufe der Übezeit wieder flacher, uneigentlicher, unschöner, entfernter, bis er ganz verschwand. Und wie er morgen sein wird, ist ungewiss.
Aber ich habe ihn wahrgenommen. Heute.

(Natürlich lese ich dies alles, wie immer, symbolisch, als eine Lebensmetapher. Es ist nicht nur Musik. Es ist – wie jede Musik – Lebenlernen.)

Die bisherigen Cello-Texte:

#3 – Spiegelbilder

#2 – Lagenwechsel

#1 – Aufeinanderzu

 

13 Kommentare

    1. „10 years gone, 50 years to go“, las ich bei einer Frau, die das Gleiche wagt wie ich, in so hohem Alter:)
      Das stimmt wohl irgendwie. Aber da ja jede einzelne Etappe so wunderbar ist, und da es mein langer Traum war, ist es mit das Schönste, was ich mir je geschenkt habe.
      Liebe Grüße aus dem schon nächsten Morgen zurück
      Frau Rebis

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    1. Wahrscheinlich ist solch Erleben nicht an ein konkretes Instrument, an ein konkretes Tun gebunden – vielleicht zeigt sich hier die Suche, die man immer in sich trägt, die nur irgendwie passende Manifestationen braucht?
      Am Klavier habe ich es in dieser starken Form nie erlebt, beim Singen schon.
      Danke für Deine Mitfreude, und herzlichsten Gruß zu Dir
      Frau Rebis

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      1. Ich lese gerade Wolfssonaten von Hélène Grimaud und muss ganz oft an dich und diesen Artikel hier denken. Sie spricht auch über dieses und ähnliche Erfahrungen … Ein Buch, das dir bestimmt gefallen würde. (Weiß nicht, ob es noch lieferbar ist, von 2006, habe es ausgeliehen …)

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  1. Das klingt so zauberhaft, so gerne würde ich dich einmal wirklich auf dem Cello hören, nein, bitte jetzt nicht abwinken ;) ich mag Cello sehr, so wie ich das Klavier sehr mag und das Tenorsaxophon! Ja, das sind meine Favoriten.
    Dir wünsche ich weiterhin Zauberklänge und deinen ganz eigenen Ton, der sich ausweitet, von Mal zu mal,
    herzliche Grüße
    Ulli

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    1. Liebe Ulli,
      Du hast mir meine erste Reaktion sozusagen von der Zunge genommen – denn natürlich sagte mein erster Impuls: Abwinken;-)
      Auch gestern empfand ich diesen Zauber (weswegen ich nach unserem langen Konferenztag über zwei Stunden spielte und sämtliche hier anstehenden Notwendigkeiten vernachlässigte – es ist schon irgendwie ein Wunder, dieses Instrument, und was mir mit ihm geschenkt ist.
      Und sehr schön auch Deine Instrumenteauswahl: Ich habe ja als Erwachsene meine drei Träume wahrgemacht – Gesangsunterricht, Klavierlernen, Cellolernen. Und als ich neulich darüber nachsann, ob da wohl noch ein weiteres Instrument im Leben kommen wird, war da zwar ein Wohl-eher-nicht in mir, aber dann ein Höchstens-das-Saxophon. Blasinstrument hab’ich ja wirklich noch nicht;-)
      Einen herzlichsten Morgengruß zu Dir
      Frau Rebis

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    1. Oh ja, mein Herz singt öfter vor Freude. Das Üben ist ja wirklich zunächst eine sehr geduldfordernde Arbeit, manchmal mag ich mich kaum dransetzen. Aber noch fast immer bin ich danach glücklich aufgestanden. Tag für Tag ein Geschenk, diese Musik wachsen und reifen zu sehen …
      Herzlichen Gruß zu Dir
      Frau Rebis

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