Wochenbogen

Wie eine Rakete startete die erste Woche – Anlauf genommen, gezündet, beschleunigt, abgehoben, an Fahrt aufgenommen, in die Schuljahresumlaufbahn aufgestiegen – rasant und kaum aushaltbar, wie erste Schulwochen halt immer starten. Völlig unerheblich, ob ich in den letzten Ferientagen schon am Schreibtisch gesessen hatte oder ob ich übergangslos aus dem Feriensein kam, die erste Woche ist eine Rakete.

An ihrem Ende, das Schuljahr hat da oben also zu kreisen begonnen, ist es höchste Zeit für ein erstes Innehalten. Freitagabend, sieben Uhr, ich verlasse die Schule, puh.
Wochenende. Das soll in diesem Jahr heißen: 40 Stunden am Stück ohne Erwerbsarbeit. So mein Vorsatz. Und zwar: Jede Woche. Je.de!
Dazu an den Abenden nicht länger am Schreibtisch als bis zehn. Bis auf den allerersten Abend gelang das schonmal. Ich sollte das dauerhaft schaffen. Weil.
(Über Konsequenz oder Inkonsequenz bei diesen beiden Selbstschutzregeln werde ich berichten. Ich kenne mich ja. Aber. Aber meine nicht mehr ganz jungen Lebensjahre weisen mich an, die Regenerationspausen zu verlängern. Es ist nötig. Es wird mit jedem Jahr nötiger werden. Wenn ich die noch vorgesehenen 20 Jahre durchhalten will.)
Also: Schreibtisch maximal bis zehn Uhr abends. Ein Wochenende von mindestens 40 Stunden. Hiermit laut verkündet. So schaut Ihr ein bisschen mit drauf, gelle …

Samstag also. In den Garten, das erdet. Das bietet Raum für Gedankenkreisen. Denn dass sich der Kopf wie die äußeren Tätigkeiten zum Wochenende von der Schule wegbewegt, diese mentale Fähigkeit fehlt mir (noch). Das Drehen im Kopf wird häufiger in die 40 Wochenendstunden hineinragen, das kann ich im Moment kaum ändern. Zumal wenn der Bogen der Ereignisse so weitgespannt, so emotional aufwühlend war wie in dieser ersten Woche.
Und so stehe ich am Samstag im Grün, wir schneiden und ziehen und mähen und werkeln an unserem sommerwilden Gärtchen soweit herum, dass wir in den kommenden noch warmen Wochen inmitten der zugewucherten Pflanzenwelt ein Plätzchen für uns finden werden. Privilegiert durch wärmeres Klima als an vielen anderen Orten, wird es noch viel Gelegenheit zum Draußensitzen, -spielen, -schlafen geben.
Und während meine Hand das Verdorrte entfernt sowie Bäume und Büsche stutzt, manches schon vor der Zeit, einfach weil die unteren Pflanzen durch das Blätterdach kaum mehr Licht und Wasser bekommen, da dreht sich die vergangene Woche in meinem Kopf.

Das Üppige, was der lange Sommer hat wachsen lassen, das was mich hier erstaunt und erfreut, ist es nicht das, was in meiner neuen kleinen Klasse auch sichtbar wird? Wie unerwartet beides ist, die Füllepracht unseres Gartens, und die Unbändigkeit der 30 kleinen Fünftklässler.
Nur, ich nehme es je anders wahr, werte es unterschiedlich. Das hier im Garten außer Form Geratene beglückt mich, während es mich bei den Schülern irritiert. Bei den 10-15 jedenfalls, die uns mit ihren sehr eigenen, unerwartet heftigen Lebensäußerungen von Stunde Eins an in Atem halten.
Solch eine Klasse hatte ich noch nie, gab es an unserer Schule selten. Wir sind ja bisher eher die Schulart für die „Braven“. Sicherlich werden wir uns auf lange Sicht umgewöhnen müssen, werden es bald verinnerlicht haben, dass auch bei uns die elementarste Regelerziehung – wir tragen Konflkte nicht körperlich aus, wir verhalten uns so, dass niemand gefährdet wird, wir respektieren das Anderssein des Anderen – vor allem Deutsch- und Mathematikunterricht erfolgen muss. Es ist im Moment noch ungewohnt.
Nun, arbeitet es weiter in mir, Ihr seid wild, Ihr Jungs, Eure Gruppe, die sich schon in festgefahrenen Beziehungsmustern zu befinden scheint, die Ihr von allein nicht mehr lösen könnt. Wir werden Euch zunächst eng an die Hand nehmen müssen, damit niemandem von Euch oder von den anderen etwas geschieht. Wir – alle Eure Lehrkräfte und Ihr – werden das gemeinsam hinbekommen, das weiß ich. Und „hinbekommen“ wird nicht heißen, dass wir Euch Euer lebendiges Wesen nehmen wollen. Nur Regelzäune zum Schutz von uns allen, die sind wohl dringend nötig.
Und dann, wenn wir diesen Schritt Null geschafft haben werden, dann fängt die Arbeit ja erst richtig an. Dann wollen wir, dass Ihr eine Klasse werdet. Dass Ihr lernt, Euch als eine Gruppe zu fühlen, die gemeinsam die Zeit in der Schule durchlebt, in der alle wahrgenommen werden, ihren Platz finden, in der jede und jeder mit jeder und jedem zusammenarbeiten kann. Und in der jede und jeder auf seine Weise wachsen und blühen darf.
Hoffentlich für viele Jahre, hämmert es in mir. Denn …

Denn noch etwas kreist in meinen Gedanken, während ich in den Beeten stehe, die abgestorbenen Pflanzen sehe, die ersten Herbstblätter am Boden, mich umschaue in der Symbolik des Lebenskreislaufs.
All das Keimen, das jüngst erst begonnen hat, ist über den Sommer in Wachstum und Blühen übergegangen, manches zeigt sich noch in voller Blüte, vieles aber ist nun zu Herbstbeginn am Zusammenfallen, am Verdorren, am Absterben. So ist die Natur. Manches lebt nur ein Jahr lang, manche Blumen, andere kleine Pflanzen auch. Manches lebt lange, scheinbar ewig. Die Bäume, sie werden und werden nicht älter, haben eine unendlich lange Zeit vor sich. So unterschiedlich.
So ist es auch bei uns Menschen, ich weine im Innern. Manche dürfen hundert Jahre alt werden. Andere sollen nach kürzester Zeit schon wieder gehen. Kleine M., wir haben es gestern erst erfahren, Deine Eltern wollten, dass wir als Schule Bescheid wissen. Am Montag werde ich Deine große Schwester erstmals in einer Physikstunde unterrichten. Vielleicht ist sie auch nicht da, weil sie sich lieber Zeit nimmt für den Abschied von Dir. Das wäre richtiger.
Und nein, es tröstet auch nicht, dass die kurzlebenden Blumen eine viel farbigere Pracht entwickeln als die uralten knorrigen Bäume, das tröstet überhaupt nicht. Bei uns Menschen sollte niemand nach einem so kurzen Blumenleben schon wieder gehen müssen. Und doch, so heißt es, wirst Du es wohl bald tun …
Schreien und weinen möchte man.
Ich wende mich wieder den vertrocknenden Blumen zu. Lausche, was sie zu erzählen haben. Ob nicht doch ein tröstender Klang mitschwingt …

7 Kommentare

  1. Was für ein berührender Text. Gutes Gelingen in Bezug auf die Vorsätze und die Prinzipien des Unterrichts. Als Vater einer neunmalklugen Neunjährigen weiß ich engagierte Lehrkräfte zu schätzen.

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  2. ach kleine m…
    es ist so unsäglich gemein, wenn kinder gehen müssen. sie haben doch erst so wenig leben gelebt. so schwer, das auszuhalten. ich drück dich, wenn du magst.

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