Dazwischen

Zeugnistag. Der Tag dazwischen. Zwischen dem Daraufzuleben, ich schrieb davon in den letzten Wochen, mehr als genug, und dem Sich-Entfernen, Sich-weg-Begeben. Sich von der Alltags-Seinsweise weg begeben, sich auf den Weg begeben. Ein Wortspiel fast.
Der Punkt dazwischen ist an unserer Schule um 11 Uhr. In diesem Moment beginnt die schülerfreie Arbeitsphase des Jahres, wie Kollegen es gestern nannten. In diesem Moment beginnt das Wegbegeben, möchte ich lieber sagen. Ich, für mich.

Der letzte Schulvormittag läuft ab wie immer. Wer mittwochs üblicherweise Unterricht hat, begleitet seine Klasse zunächst in den Gottesdienst. Ich mochte das noch nie. Gestern versuchte ich mit anderen Augen zu schauen. Hinten in der Kirche zu sitzen und auf all diese jungen Menschen zu blicken, durch das Ritual hindurch. Wer sie sind, wer wir sind, wer wir werden mögen, was uns hier zusammenhält. Und wer ich bin, inmitten von ihnen. Ein Geborgenheitsgefühl. Welches – meine ich das jetzt entschuldigend oder erklärend? egal – nichts mit dem christlichen Ritual zu tun hatte. Dieses nehme ich, weil es eben so üblich ist.
Nur, das frage ich mich seit Jahren jedes Mal, wenn ich am Schulgottesdienst teilnehme, warum wird dort Lernen, Schule, Arbeitsalltag immer – immer! – tendenziell als Last dargestellt, vor der man sich behüten lassen muss? Als angstauslösendes Etwas, für das man eine schützende Hand benötigt? Als schwieriger Weg, der Begleitung erfordert? All das mag die Realität widerspiegeln. Und doch fehlen mir Freude, Glück, Neugierde, Lust aufs Lernen, Faszination des Entdeckens, Stolz auf Erreichtes, all das. Man könnte ja beide Seiten aufzeigen, sie verknüpfen. Finde ich.
Meine eigenen Kinder formulieren das ebenso, nach jedem Schulgottesdienst, ohne dass ich die Sprache darauf bringe. Gestern Abend hat sich der Sohn nach fast vier Jahren immer noch empört, wie sie zum Gymnasiumsstart gespannt wie die Flitzbogen in den Reihen saßen, alle neugierig und vorfreudig bis zum Anschlag, und dann ausschließlich von Ängsten die Rede war, welche sie doch sicher hätten. „Keiner von uns hatte, Ängste, Mama, KEINER!“ (Aber vielleicht entwickeln sich welche, wenn nur oft genug darüber geredet wird?)

Ob ich das an der Schule mal ins Gespräch bringe? In ganz ruhigem Ton (den ich nach den Ferien sicher wiedergefunden haben werde), damit ich diesen Aspekt nicht damit vermische, dass ich Schulgottesdienste grundsätzlich in Frage stelle (was hier zu weit führen würde).
Denn ich will das ernstlich wissen. Und würde es gern verändert sehen. Was ist das für ein Bild vom Lernen, vom Sichanstrengen, vom Forschenwollen, vom Neugierigsein, vom Verstehen, vom Menschen letztlich, wenn wir einzig das Belastende an unserem Schulalltag in den Fokus stellen? In den Mittelpunkt der Feste nämlich – Gottesdienste als Feste, mit dieser Interpretation liege ich doch nicht falsch? – in den Mittelpunkt der Feste also, welche ein Schuljahr beginnen und beenden. Ein wenig mehr Feier, Feier des Lebens, Feier unseres Seins, die dürfte ruhig dabei sein.
So wie in den Fürbitten der Sechstklässler gestern. Kinder, die ihr eigenes Erleben – ich kenne die meisten privat, weiß um das konkrete Schwere, welches dahintersteht – als versöhnliche Worte der Hoffnung weitergegeben haben. Das war wundervoll. Das war ganz ernsthaftig und reif, und ganz kindlich echt. Gleichzeitig. Das waren Wahrheiten, die ich auch gern so formulieren können wollte. (Ich habe gleich nachgeschaut, welche Religionslehrerin diese Kinder begleitet hat. Ja, passt:) Danke, dass Du die Kinder zu diesen Worten ermutigt hast.)

Meine Frage richtet sich im Grunde nicht an die Fachschaft Religion. Es ist eine Frage an uns alle, die wir da wirken und sind. Mit welchen Augen schauen wir auf unser Tun, auf unser Sein?
Zum Beispiel: Man kann Zeugnisse so oder so austeilen. Gestern habe ich es seit langem mal wieder mit einem Kollegen gemeinsam getan, dessen Zugang zu den Schülern – auf den ersten Blick jedenfalls – sehr anders ist als meiner. Wir verabschiedeten unsere 10. Klasse nicht nur in die Sommerferien, sondern auch in die Kursstufe, in die Phase einer größeren Selbstständigkeit.
Auch hier wieder: der erhobene Zeigefinger, die sich schon anbahnenden Sorgen im Fokus? Nein, ich konnte nach seinen Worten nicht an mich halten, setzte hinter seine Rede noch eine eigene. Damit auch gesagt wurde, wie großartige Dinge sie schon erreicht haben. Wie sie sich feiern dürfen. Wie zuversichtlich sie sein können. (Mit den Sorgen, die ich bei einigen Schülern durchaus teile, werden wir uns nach den Sommerferien beschäftigen. Heute ist der Tag des Feierns. So.)
In meinen Augen gibt es zu einem Zeugnis, welches man austeilt, nur einen stimmigen Kommentar: „Herzlichen Glückwunsch. Feiere das, was Du geschafft hast.“ (Und was das jeweils ist, kann jede und jeder nur selbst wissen. Und zwar, ohne dabei in die Zeugnisse der Nachbarn zu schielen. Vergleichen ist ja oft die Krux. Auch später, im „echten“ Leben.)
Nun, wir entließen die Schüler also mit zwei Sichten auf das Leben. Auch gut. Sollen sie ruhig sehen, wie unterschiedlich man blicken kann. Sie werden sich ihren eigenen Weg ohnehin selbst suchen.

11 Uhr. Schöne Sommerferien Euch! – Schöne Sommerferien, Frau Rebis! (Man freut sich heutzutage ja über junge Menschen, die diesen Gruß erwidern. Nur manchen haben wir es bisher nicht beibringen können. Wir haben ja noch zwei Schuljahre;-))

11 Uhr. Die schülerfreie Phase des Tages beginnt. Eine viel zu große Zahl an Verabschiedungen steht an. Vier Pensionierungen, zwei Schulwechsel, sechs Referendarinnen, die – wie so oft – nicht von uns übernommen werden konnten. So viele hatten wir selten. So lang wie gestern hat es selten gedauert. Bis weit in den Nachmittag hinein sind wir feiernd beisammen. Essen, Trinken, Darbietungen von acht Fachschaften, eine berührender und eindrücklicher als die andere, Worte, Tränen, Umarmungen. So gut wie gestern war es selten. (Wenn ich mal groß bin, möchte ich genauso verabschiedet werden. Kein bisschen weniger liebevoll und wertschätzend, bitte. Dazu muss ich nur noch 20 Jahre an dieser Schule bleiben;-))
Die kabarettreife Persiflage der Gemeinschaftskundler, der persönlich adaptierte Gang durch die Literaturgeschichte der Deutschfachschaft, das individuelle Quiz auf „Englisch für Jedermann“, die Mathe-Physik-und-Sonstiges-Notfallkiste für das bevorstehende schülerfreie Leben, all die erinnernden Worte, die Fotoshow des Schulleiters, in die er seine vier Pensionierungsreden geschickt einflicht und liebe-humorvoll miteinander verknüpft, die Affenbandenstunde der Referendarinnen, das geplant und spontan Hin-und-Her-Gesagte, sehr persönlich oft, all das hat immer nur das Gleiche zum Inhalt. Ein Danke nämlich. Dafür, dass wir zusammenarbeiten und dies als wertvoll erleben durften.
Auch wenn man es manchmal nicht sofort erkennt. Der nun pensionierte Kollege, der ganz warme Grüße an meine Kinder ausrichten lässt (was ich nie gedacht hätte), beginnt mit den Tränen zu kämpfen (was ich nie geahnt hätte) und sagt Worte, die ich nie aus seinem Munde erwartet hätte. So ist das manchmal mit dem Blindsein. Ich möchte noch viel lernen. Mir abschauen, zum Beispiel von unserer Schulleitung, die das Hinschauen vorlebt. Das wertschätzende, danksagende, demütige Aufeinanderschauen. Um es mit W.s Dankesworten zu sagen, von mir in meine Sprache übersetzt: „Ihr schaut, was einem liegt, was einem guttut – und was auch nicht. Ihr sorgt Euch, dass wir unsere Stärken ausleben dürfen und gut mit uns umgehen können in den Dingen, die uns schwerfallen. Ihr bedankt Euch für unsere Arbeit, Ihr vertraut uns, lasst uns Entscheidungsfreiheit und Gestaltungsspielraum, schützt uns so weit es geht vor den problematischen, widersinnigen Seiten des „Systems“, und vor allem aber immer wieder: Ihr vertraut uns.
Danke, Ihr beiden Scheffs. Ich würde gern noch so manches Schuljahr unter Eurer Leitung arbeiten. Vielleicht gilt in Fortsetzung eines in letzter Zeit häufig zitierten Spruchs – „Auf den Lehrer kommt es an“ – auch dieses: Auf die Schulleitung kommt es an. Wenigstens ein bisschen. Oder ziemlich dolle.

So. Schluss.
All das drängte hinaus. Der gestrige Tag war voll. Tief im Innern bewegend.
Und nun wartet der erste Ferientag. Zahlreiche Dinge wollen getan werden. Weil wir uns morgen schon auf den Weg machen. Konkret: auf den Radweg. In etwa 24 Stunden geht es los. Ich muss jetzt ein bisschen zügig sein.

 

10 Kommentare

  1. Auf die Schulleitung kommt es an – Ein wichtiger Gedanke. Ich habe hier die Frei- (und auch Schutz)räume, die ich brauche, um mich als Lehrer entfalten und mein Bestes geben zu können. Das weiß ich sehr zu schätzen. Zufriedenheit von Lehrern und Schülern beeinflusst die stattfindenden Lernprozesse doch sehr erheblich.

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  2. Liebe Frau Rebis, unbedingt ja, ja und ja, es kommt auf die Schulleitung UND auf die Lehrerinnen und Lehrer an! Und ich finde es soo wichtig die Freude zu unterstützen, sie in den Fokus zu rücken, statt die Last und das Leid, die sind eh viel zu gross geworden! Wenn ich mit Jugendlichen arbeite geht es genau darum, sie ihre Stärken entdecken zu lassen und sie darin widerum zu bestärken, ohne aber …
    Ich fand es schon ätzend, als mein Sohn in die Schule kam (lang ists her) und fast jeder meinte sgen zu müssen: jetzt beginnt der Ernst des Lebens- herrjeh, ich habs dann thematisiert. Ähnlich sehe ich es mit der Pubertät, ich glaube, dass wir sie auch schwierig reden, statt den Übergang mit Wohlwollen und Verständnis zu unterstützen …
    hach, das war ein Artikel, der mir sehr, sehr gefallen hat!
    Danke dafür, nun aber gute Reise und viiiiel Freude
    Ulli

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    1. Und mir gefallen Deine Worte sehr, sehr – danke! Ja, der „Ernst des Lebens“, an dessen Omnipräsenz zu Einschulungszeiten meiner Kinder erinnere ich mich auch noch.
      Mir scheint, in vielen Familien haben die Eltern mehr Angst vor der Schule als ihre Kinder. Zunächst. Später überträgt sich diese Angst natürlich. Fatal.
      Aber nun reisen wir erstmal in öffnende, freimachende, belebende Welten – Du ja auch. Hab es gut, dort, wo Du sein wirst.

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  3. Was ich als Schweizerin spannend finde: Dieses Zeungnispipapo.
    Ich weiß zwar nicht, wie es hierzulande heute ist, aber als ich zu Schule (auch weiterführende Schulen) ging, wurden sie einfach am Schluss des letzten Morgens verzeilt. Ohne großes Theater. So bekamen sie nicht so dieses „alles entscheidende
    Gewicht. Natürlich hibbelten wir auf den ersten Blick ins Zeugnis, aber ich glaube, es war damals „weniger wichtig“ als heute. Vielleicht.
    Und vielleicht ist es ja heute in der Schweiz auch anders geworden.

    Aber mit Kirchen und Gottesdiensten hat Zeungnis- und Schulfeier hier nienie zu tun, da würden sich zu viele Eltern auch klar dagegen aussprechen. Kirche und Schule sind hier klar getrennt.

    Ich finde deine Gedanken zur Lebensfreude sehr kostbar, den Fokus auf das Schöne am Lernen zu richten statt auf die Lebensmühsal. Hat die nicht was „kirchlich“-dogmatisches, diese Prägung?

    Nun aber gut und finitolavoro – gute Radreiseerholung und tolle Erlebnisse! 💜

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    1. Mir scheint, die Familien machen Zeugnisse so wichtig. Aber sicherlich drehen auch wir mit am Teufelsrad. Wir sollten es anhalten. Was Noten schon bedeuten … und was eben nicht. Sich das bewusst zu machen, finde ich immens wichtig.
      Interessant, warum Schulgottesdienst hier verankert sind und bei Euch nicht. Mir erschließt sich der Sinn nicht. Das geht über Allgemeinbildung weit hinaus …
      Das Schöne statt die Mühsal – jaaa!

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  4. Eine wertschätzende und zugewandte Schulleitung ist so unendlich viel wert!
    Den Gedanken das Erfolg auch für jeden etwas anderes bedeuten kann und Schule und Lebensfreude keine grundsätzlichen Widersacher sind finde ich sehr sehr wichtig.
    Schöne Worte!

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      1. Auch wenn Fremdsprachen nicht meine Stärke sind, es gibt im italienischen ein eigenes Wort das Stolz/Zufriedenheit mit sich bezeichnet, auf eigene Ziele, ohne das es um präsentieren oder einen Wettbewerb mit anderen geht.
        Für mich – persönlich – ist Erfolg zuerst innerlich. Ich messe mich an mir und dem, was ich erreichen wollte.
        Insofern kann ich die Kritik an dem Wort gut verstehen. Da mir aber ein besseres fehlt, ist es um so wichtiger verschiedene Formen von Erfolg zu thematisieren.

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