Richtungen

Seit einem knappen Monat erst hat die Freundin die Ahnung, seit einer Woche nun die Diagnose. Heute beginnt ihre Bestrahlung. Eine Therapie, zu der sie dem Arzt nur eine einzige Frage stellte:
Haben Sie das schon jemals gemacht?
Ja„, sagte der, „und einige Male erfolgreich.
Gut„, sagte die Freundin.
Und entschied sich dafür.

Sie hat Angst.
Sie teilt die Angst mit ihrer Schwester. Ihre Gespräche, ihre Tränen der letzten Wochen mag ich mir nicht vorstellen.
Die Schwester hat Angst. Sie teilt die Angst mit mir. Auf dem Schulflur neulich, auf der Straße, am Telefon, wo immer, es fließen Tränen.
Ich habe Angst. Ich teile diese mit nur einigen, wenigen Menschen. Wie passt das schon in den Alltag hinein, dieses Erzählen vom Herausfallen aus Zeit und Raum. Hier erzähle ich, immerhin. Weine unsichtbare Tränen.

Zur Schwester spreche ich von Zuversicht. Von „stark“ und so Attributen.
Die Schwester spricht zur Freundin – da bin ich sicher – von Zuversicht. Von „stark“ und so Attributen.
Und zu wem spricht die Freundin von Zuversicht? Wagt sie das zu denken, zu sprechen? Zu sich selbst wenigstens?
Ich ahne nicht, wir ahnen nicht …

Beide Richtungen fühlen sich falsch an. Nur Angst, oder nur Zuversicht – das stimmt doch beides nicht. Es müsste eine andere, eine dritte Richtung geben. Keine dazwischenliegende, keine, in der Angst und Zuversicht zusammengefügt oder aufgehoben werden. Eine weitere Dimension müsste sich öffnen.

Eine, in der wir uns nicht in den Strom einer Wertung stellen.
Eine, in der wir uns nicht wehren, und nicht an uns reißen.
Eine, in der wir nicht aus der Vergangenheit heraus, in die Zukunft hinein uns biegen.
Eine, in der es keinen Anfang und kein Ende gibt.
Eine, in der ist, was ist. Und war, was war. Und sein wird, was sein wird.
Eine, in der wir nur sind.

2016_02_23 Richtungen

13 Kommentare

  1. Bei meiner Freundin wurde es wieder – sie durfte dem Dings von der Schippe springen. Es hat gedauert, auch dieses Zuversicht-Hoffnungs-Rückschläge-Szenario andauernd. Man sollte auf ALLES gefasst sein. Trotzdem NIE die Zuversicht verlieren.
    Gruß von Sonja

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    1. ich meine es ungefähr so: „annehmen“ als gegenteil zu „dagegen ankämpfen“. weil es jetzt einfach so IST, und sich dagegen zu wehren, zu hadern und zu verzweifeln soviel energie verbraucht, die für die gesundung gebraucht wird. annehmen heißt ja nicht, daß mensch nicht traurig sein darf und wütend und angst haben.
      ich wünsche dir ein schönes lichtes wochenende!

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      1. Ja, ich glaube, so erlebe ich sie (und ihre Schwester auch, die von der Familie die Nächste, die am meisten Involvierte ist) – sie geben sich mit aller Kraft jetzt in die Situation der Bestrahlung hinein. So jedenfalls sehe ich es von außen. Es ist ein seltsames Gefühl, sich überhaupt nicht hineinversetzen zu können …

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